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2009/2 Menschenrechte in Schweizer Informations­einrichtungen

Archivierungspolitik als Mittel zur Verteidigung der Menschenrechte

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Ende 2008 wurde eine neue Studie mit dem Titel Archivpolitik zur Verteidigung der Menschenrechte: Aktualisierung und Erweiterung eines Berichts der UnESco und des International council on Archives (1995) zur Verwaltung der Archive der Staatssicherheit früherer repressiver Regierungen auf der Website des International Council on Archives (ICA) veröffentlicht. Verfasser des Berichts in spanischer Sprache ist Antonio González Quintana.

González Quintana Antonio, Políticas Archiví- sticas para la Defensa de los Derechos Humanos: Actualización y ampliación del informe elaborado para Unesco y consejo Internacional de Archivos (1995) sobre gestión de los archivos de los servicios de seguridad del estado de los desaparecidos regímenes represivos, ICA, Paris, 2008; Website: http://www.ica.org/fr/node/39123.

Die erste Arbeitsgruppe wurde 1994 unter der Schirmherrschaft der UNESCO und des ICA eingesetzt und bestand aus Archivaren, welche Erfahrung mit solchen Archiven hatten, sowie aus Menschenrechtsexperten. Die Arbeitsgruppe war auch mit Repräsentanten aus Schwellenländern, aus Europa und aus Lateinamerika besetzt. Antonio González Quintana, der von von 1986 bis 1994 die Leitung der Abteilung spanischer Bürgerkrieg am historischen Nationalarchiv von Salamanca innehatte, wurde zum Projektleiter ernannt. Dabei ging es darum, die Situation des Dokumentenbestands zur Unterdrückungspolitik dieser Regierungen zu analysieren. Infolge des Demokratisierungsprozesses der achtziger Jahre begannen verschiedene Regierungen vieler europäischer, afrikanischer und asiatischer Staaten, sich der Folgen und Lasten derartiger Archivbestände zu entledigen.

So erwarb sich die internationale Gemeinschaft der Archivare den Ruf, sich der Sorgen der Menschenrechtsvereinigungen anzunehmen und sich für den Erhalt dieser Bestände entschieden einzusetzen. Dieser Einsatz war notwendig, um auf die Verantwortung hinzuweisen, die mit einer möglichen Rekonstruktion der jeweiligen Sozialgeschichte einhergeht, und um die Kontinuität des Kollektivgedächtnisses sicherzustellen. Gleichzeitig wurden damit ethische und deontologische Fragestellungen mit Problemstellungen zur Sicherung und Erschliessung dieser Archivbestände und zu deren rechtmässiger Benutzung verknüpft.

Die Arbeitsgruppe wurde auch damit beauftragt, aufgrund der durch ihre Mitglieder durchgeführten Studie zu den notwendigen Verfahren für den Erhalt dieser Bestände während der Übergangsphase zur Demokratie Empfehlungen auszusprechenGonzález Quintana Antonio, «Les archives de services de sécurité des anciens régimes répressifs», in Janus, 1999.1, ICA, Paris, S. 13–31..

Mehr als zehn Jahre sind seitdem vergangen, und der Autor sah die Notwendigkeit, den Bericht der Arbeitsgruppe jetzt zu aktualisieren. Die Welt hat sich rasant verändert, und die Ereignisse haben es ihm jetzt ermöglicht, die Analyse der Wechselbeziehung zwischen Archiven und Menschenrechten zu vertiefen. Es schien ihm auch wichtig, die Untersuchung auf andere Archivbestände, also nicht nur auf Bestände repressiver Staaten, auszudehnen. Dies war auch von zahlreichen Forschern, Historikern und Archivaren gefordert worden.

Um ihre Sammel-, Erhaltungs- und Archivnutzungsaufgabe zu erfüllen, benötigen die Archivare erweiterte Kenntnisse zur Herkunft der Bestände sowie zu den jeweiligen Organen, die diese Dokumente erstellt hatten. Diese Wissenslücken können sowohl aus der Missachtung wie auch aus der Verteidigung der Menschenrechte entstanden sein. González Quintana unterscheidet in seinem Bericht vier Gruppen von Archiven, welche in der Übergangsphase eine wichtige Rolle spielen:

– Die Archive des Grauens oder des Terrors: Der Bericht analysiert die Charakteristika der Entstehung, die Entwicklung und die Dokumentenverarbeitung, die die massive Verletzung der Menschenrechte seitens öffentlicher Institutionen aufzeigen. Eine Reihe von Archiven wie diejenigen der Staatssicherheitsdienste, der Sondergerichte, der Gefängnisse und der Gefangenenlager der Militärs, der Polizei und der Justizorgane fallen unter diesen Punkt. Der repressive und gut ausgerüstete Apparat wurde häufig durch eine einflussreiche Bürokratie gedeckt, welche die Bevölkerung in Schach gehalten hat.

– Die Archive des Schmerzes: Es werden die Charakteristika der Dokumentationspraxis der Organisation, die der Verteidigung und der Anklage der Ver- letzung der Menschenrechte dienen, analysiert. Dabei handelt es sich um Archive von Organisationen zur Verteidigung von Opfern von Menschenrechtsverletzungen, von Parteien, von Gewerkschaften und Oppositionsorganisationen (im Geheimen oder im Exil), von Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte wie auch von religiösen Organisationen, Juristengruppen und Anwälten sowie Zivilorganisationen. Diese Bestände sind einerseits unentbehrliche Quellen, um die Vergangenheit zu kennen, und andererseits Beweise, die die rechtliche Verantwortung belegen und damit der Wiedergutmachung von Rechtsverletzungen dienen können.

– Die Archive der Justiz: Hier untersucht der Autor die Archive der Rechtsorgane im Übergangsprozess zur Demokratie und der Kommissionen der Wahrheitsfindung, welche nach dem Untergang der repressiven Regierungen geschaffen wurden, um die Verantwortlichen für die Verletzung der Menschenrechte zu verurteilen oder um die Opfer dieser Machenschaften durch den Staat zu entschädigen (Beispiele: Tribunal von Ex-Jugoslawien, Ruanda, Pinochet; Kommissionen der Wahrheitsfindung, die in Ecuador, Peru, Mexiko und Paraguay eingerichtet werden). Dies sind neue Provenienzstellen für Dokumente, welche sich oftmals auf Aussagen von Zeugen und manchmal von Peinigern stützen. Die Justiz wird weltumspannend und erlaubt gleichzeitig eine Wiedergutmachung der Rechtsverletzungen von Einzelpersonen: Rehabilitierung, Amnestie, Entschädigungen, Unterhalt und Zurückerstattung der Güter.

Die Rolle der Archivare und der Archive hat sich gleichfalls stark weiterentwickelt; sie sind zu Garanten der Bürgerrechte und zu einem wichtigen Element des kollektiven Gedächtnisses der jeweiligen Zivilgesellschaft geworden. Sie spielen eine immer wichtigere Rolle bei der Verankerung der Kollektiv- und Individualrechte. Sieben Faktoren begründen die Notwendigkeit, den Bericht zu aktualisieren.

Das jetzt erwachte Bewusstsein für die Wichtigkeit dieser Unterlagen im Zuge der aktuellen Vergangenheitsverwaltung oder für die Rehabilitierung der noch älteren geschichtlichen Vergangenheit verleiht den Archiven ein grösseres Gewicht. Die Wichtigkeit der Wahrnehmung der Vergangenheit für die Rahmenbedingungen der Gegenwart zeigt, dass man es bei offiziellen Reden und bei Volksmythen nicht bewenden lassen kann.

Der Einfluss, den das Zugänglichmachen der Unterlagen der Staatssicherheitsdienste im Verlauf des Prozesses des politischen Übergangs zur Demokratie hatte, hat gezeigt, was für ein wichtiges Mittel der Wiedergutmachung, aber auch was für eine starke politische Waffe dies zur Durchsetzung der Ziele der genannten Menschenrechtsorganisationen sein kann und welche Vorteile in den politischen Auseinandersetzungen damit errungen werden können.

Die Entwicklung der Archivierungspolitik erlaubt es, die unterschiedlichen Quellen (Verletzung, Verteidigung) in Gegensatz zueinander zu stellen und deren gegenseitige Wichtigkeit bewusst zu machen. Das Treffen zwischen Archivaren und Menschenrechtsverteidigern hat es möglich gemacht, die interdisziplinäre Arbeit in ihren jeweiligen Zielsetzungen für die Archivare und die Menschenrechtsorganisationen zu verbessern. Der bekannte Bericht von Louis Joinet zum Kampf gegen die Straffreiheit, der von Diane Orentlicher kürzlich aktualisiert wurde (beide sind in der Archivwelt wichtige Persönlichkeiten), spricht in diesem Zusammenhang vom Recht des Wissens und des ErinnernsJoinet Louis, The Administration of Justice and the Human Rights of Detainees: Question of the impunity of perpetrators of human rights violations (civil and political), UNO, Commission on Human Rights, 1997 http://www.unhchr.ch/huridocda... (Symbol)/E.CN.4.sub.2.1997.20.Rev.1.En Orentlicher Diane, Promotion et Protection des Droits de l’homme: Ensemble de principes actualisé pour la protection et la promotion des droits de l’homme par la lutte contre l’impunité, UNO, Commission des Droits de l’homme, 2005 http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/G05/109/01/PDF/G0510901.pdf?OpenElement..

Die Liste der Standorte derjenigen Archive, welche der Öffentlichkeit zugänglich sind, muss aktualisiert werden (z. B. nach der Entdeckung der Archive der Nationalpolizei von Guatemala im Jahre 2005). Der Bericht erwähnt gleichfalls die rasche Entwicklung der Informationsgesetze, das gesetzliche Recht auf Zugang und die Schaffung von Institutsarchiven oder Instituten der Vergangenheitsbewältigung wie etwa die entsprechenden Museen in Osteuropa.

Das gleichlautende Interesse von Archivaren, Historikern, der Zivilgesellschaft und der Menschenrechtsverteidiger hat dazu geführt, dass viele Symposien oder Konferenzen das Thema der Erhaltung und des Zugangs zu strategischen Dokumenten behandeln. Dies macht es möglich, sich auf ein gemeinsam überliefertes Erbe zu verständigen und den Rahmen für juristische Wiedergutmachungsprozesse zu schaffen. Der überarbeitete Bericht gibt Regierungsorganen zwölf Empfehlungen ab, die anhand von konkreten Beispielen aus Risikoländern belegt werden:

1. Die Dokumente, welche Menschenrechtsverletzungen beweisen, müssen aufbewahrt werden.

2. Die Dokumente, welche Menschenrechtsverletzungen beweisen, müssen für die Rechtsprechung verfügbar sein.

3. Die Archive der Organisationen der repressiven Regierungsorgane müssen der demokratischen Rechtsordnung übergeben werden

4. Die Archive der früheren repressiven Regierungen müssen unter die Kontrolle der neuen demokratischen Behörden gestellt werden

5. Die Archive der Kommissionen der Wahrheitsfindung und ähnlicher Organisationen müssen geschützt werden, und der Gebrauch ihrer Bestände muss durch das Gesetz geregelt sein.

6. Es muss eine Lösung für die Sicherung und Erhaltung der Archive der Gerichte gefunden werden, mit dem Ziel, dass damit Kriegsverbrechen oder Menschrechtsverletzungen beurteilt werden können.

7. a) Die Dokumente, welche die vergangenen politischen Unterdrückungen bezeugen, müssen in öffentlichen Archiven oder, falls sie zu viel Platz beanspruchen, vorübergehend in einem eigens dafür geschaffenen Zentrum verwaltet werden, um danach in die entsprechenden Nationalarchive überführt zu werden.

b) Die Archivzentren, welche die Dokumente aus der Zeit der Unterdrückung verwalten, müssen dem gesetzlichen Schutz von Kulturgütern unterstellt werden.

8. Der Zugang zu den Archiven der Unterdrückung muss gesetzlich verankert werden.

9. Die Länder, welche sich gerade in einer Übergangsphase zur Demokratie befinden, müssen die Quellen von Menschenrechtsverletzung und politischer Unterdrückung, die ihre Länder betreffen und die sich in den Händen der Geheimdienste traditionsgemäss demokratisch geführter Länder befinden, einfordern können. Die wichtige Rolle der Zivilgesellschaft als Druckmittel auf Regierungen im Hinblick auf Führung und Öffnung solcher Archive muss anerkannt werden.

10. Die Archive der Staatsorgane, welche in die Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind, müssen gefunden und bekannt gemacht werden.

11. Es müssen Hilfsmassnahmen zur Lokalisierung, zum Schutz und zur ar- chivarischen Bearbeitung der Dokumentenbestände bereitgestellt werden, die von Menschenrechts- und Oppositionsorganisationen erstellt worden sind.

12. Die Liste der Archive repressiver Staatsorgane muss offengelegt werden. Die Erfassung jeglicher Archive, welche solche Bestände haben, nimmt von Tag zu Tag zu. Damit ist die Bekanntmachung und die Öffnung dieser Archive sichergestellt (im Anhang des Berichts; ebenfalls durch andere Organisationen wie Les Archivistes sans Frontières, Memoria Abierta in Argentinien, Memory of the World von der UNESCO und die Sektion Archive und Menschenrechte des ICA).

Die generellen Grundlagen der Archivwissenschaft haben im Allgemeinen ebenfalls für die Archive der repressiven Regierungen ihre Gültigkeit. So soll der Bestand identifiziert werden, das Provenienzprinzip angewendet werden, detaillierte Inventare müssen ausgearbeitet werden, auch sollen die jeweiligen Bestände bewertet werden, um sie dann mit den Beständen anderer Bereiche zu vergleichen. Die Bestände müssen sicher aufbewahrt werden, und gleichzeitig soll der Zugang in gerechter und vertrauenserweckender Art und Weise gewährleistet sein. Weiter muss die Führung dieser Archive nach deontologischen Grundsätzen der Archivare, welche sich mit den Beständen der früheren repressiven Regierungen beschäftigen, garantiert sein. Dies sind die Überlegungen und beruflichen Empfehlungen, welche González Quintana zum Schluss seines Berichts aufführt, der sich wie sein ers- ter Bericht auf den Zeitraum von der portugiesischen Nelkenrevolution bis zum Ende der Apartheid in Südafrika (1974–1994) konzentriert.

Einige Spezialgesetze werden im Anhang zitiert, darunter diejenigen aus Brasilien, Deutschland (die Bundeskommission für die Verwaltung der Stasiarchive dient dabei als Beispiel), Polen, der Slowakei und Ungarn.

Die überarbeitete Studie von Antonio González Quintana ist ein Werkzeug unter vielen, welches die Besorgnis der internationalen Archivwelt aufgreift, den Schutz und den Zugang zu den Dokumenten zum Thema Menschenrechtsverletzungen zu verbessern. Das Recht auf Wahrheit, das Recht des kollektiven Erinnerns, das Prinzip des habeas data, welches es dem Einzelnen erlaubt, historische Recherchen zu machen und zu wissen, was die Archive an Information über seine eigene Person enthalten, sind deckungs- gleich mit den von Louis Joinet beschriebenen Prinzipen aus seinem Bericht über den Kampf gegen die Straflosigkeit. Das Recht zu wissen, das nicht veräusserbare Recht auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, auf Wiedergutmachung und die Pflicht des «Sicherinnerns» müssen durch beweiskräftige Originaldokumente belegt werden können.

Mit demselben Ziel hat die amerikanische Archivarin Trudy Peterson einen Leitfaden und einen Bericht zur Erhaltung der Dokumente von Wahrheitskommissionen und von internationalen Tribunalen veröffentlichtPeterson Trudy, Final Acts: a Guide to Preserving the Records of Truth commissions, Washington, Woodrow Wilson Center Press, 2001; auch auf folgender Website zugänglich: http://www.wilsoncenter.org/press/peterson_finalacts.pdf; Temporary courts, Permanent records, 2006, über den Link http://www.usip.org/pubs/specialreports/sr170.pdf.. Im elektronischen Zeitalter ist dies notwendig, da die Sicherung dieser Art von Archiven angesichts der Grösse der Aufgabe nicht aufgeschoben werden kann. Eine solche Herausforderung kann nur mit der Unterstützung und der Teilnahme aller an dieser Problematik Interessierten gelöst werden. Alle (internationalen) Regierungsorganisationen und Nicht-Profit-Organisationen müssen die Frage der Archive in ihre Überlegungen mit einbeziehen und die Sicherung dieser Dokumente sowie den Zugang zu ihnen im gesetzlich möglichen Rahmen fördern.

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Cristina Bianchi

Responsable des archives de la Ville de Pully