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2013/3 Reden wir vom jungen Publikum!

Kinder- und Jugendliteraturen als Abbilder historischer Kindheitsauffassungen: die Sammlungen am SIKJM

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Die Bibliothek des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien SIKJM besitzt wertvolle Kinderbuchsammlungen. Die Bestände lassen historische Wahrnehmungen von «Kindheit» sichtbar werden. In ihrer Rolle als «Medien» stehen Kinder- und Jugendliteraturen für einen Austausch zwischen den Generationen.

Das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM, assoziiertes Institut der Universität Zürich und gleichzeitig schweizerische Sektion von IBBY (International Board on Books for Young People), beherbergt als einzige Institution in der Schweiz Kinder- und Jugendliteratur und dazugehörige Fachliteratur von historischem und zeitgenössischem Interesse sowie internationalem Renommee. Zu den Hauptaufgaben gehören, neben dem Sammeln und Dokumentieren, die Erforschung von Kinder- und Jugendmedien, literale Fördermassnahmen und dazugehörige Projekte. Die internationale Zusammenarbeit mit ähnlichen Institutionen ist dabei von enormer Bedeutung.

Franz Caspar (1916–1977), Gründer des Instituts, rief 1968 die Schweizer Bevölkerung auf, dem neu gegründeten Schweizerischen Jugendbuchinstitut (SJI) alte und neue Bücher zu überlassen und initiierte so die Sammeltätigkeit. Schnell entwickelte sich das Institut um eine Gruppe enthusiastischer Sammler, darunter Bettina Hürlimann (1909–1983), Elisabeth Waldmann (1922–1996) und Peter Keckeis (1920–2007). Das SIKJM entstand 2002 aus der Fusion zwischen dem SJI und dem Schweizerischen Bund für Jugendliteratur (SBJ, gegründet 1954). Die Trägerin des SIKJM ist die Johanna-Spyri-Stiftung. Das Spyri-Archiv mit Teilen des Nachlasses der weltberühmten Schweizer Kinderbuchautorin so- wie Forschungsmaterialien ist ebenfalls an der Georgengasse 6 in Zürich beheimatet. Neben dem Hauptsitz hat das SIKJM auch je eine Filiale in der West- (Lausanne) und Südschweiz (Lugano). Finanziell wird es grösstenteils vom Bundesamt für Kultur getragen.

Die Bibliothek weist heute über 50 000 Einheiten auf, wovon rund drei Viertel Primärmedien sind. Sie bilden sowohl Forschungsgrundlage als auch kulturelles Erbe der schweizerischen, deutschen und internationalen Kinder- und Jugendliteratur. Demgemäss stehen Werke von Schweizer Autoren und Autorinnen sowie Publikationen von Verlagen aus der Schweiz im Zentrum; die gesammelten Bücher aus Deutschland und Österreich überwiegen jedoch anteilsmässig. 

Die Kinderbuchsammlungen am SIKJM

Der Ursprung der Sammlung Bettina Hürlimann kann der Biografie der Besitzerin gegenübergestellt werden: Sie wurde 1909 als erstes Kind des Verlegers Gustav Kiepenheuer in Weimar geboren. Mit 19 Jahren begann sie eine Ausbildung an der Akademie der grafischen Künste und Buchgewerbe in Leipzig. 1931 wurde sie vom Atlantis-Verlag in Berlin eingestellt und mehr und mehr zur rechten Hand des Verlagsleiters Martin Hürlimann. 1933 heiratete sie ihn und gründete eine Familie. Die Kinder- und Jugendbuchsammlung entstand, so Hürlimann, als «Bibliothek zum Gebrauch einer kinderreichen Verlegerfamilie; zudem begann das Elternpaar, als die Kinder im zartesten Alter waren, selbst Kinderbücher [...] zu verlegen. Der Grundstock meiner Kinderbuchsammlung war also eine für die eigenen Kinder und unsere Verlagsarbeit zusammengesuchte Bibliothek interessanter moderner Bilderbücher aus all den Ländern, deren Buchmarkt uns damals [...] zugänglich war.»Hürlimann zitiert in: Fassbind-Eigenheer, R., Die Kinderbuchsammlung Bettina Hürlimann. Gesamtkatalog, hrsg. v. Schweizerischen Jugendbuch-Institut, Zürich 1992. Hier S. 43. 

Hürlimann wünschte ausdrücklich, dass ihre Bibliothek nach ihrem Tod Studierenden und Bibliophilen zur Verfügung steht. Die Sammlung ist zwischen 2011 und 2013 rekatalogisiert und im NEBIS-Verbund zugänglich gemacht worden. Hürlimann galt als weltweit anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Kinderbuchforschung. Sie war auch unter den Gründungsmitgliedern des IBBY und hatte viele Freundschaften mit bekannten Autorinnen und Autoren, Illustratorinnen und Illustratoren (darunter z.B. Astrid Lindgren, Pamela Lyndon Travers und Maurice Sendak).

Zur Sammlung gehören über 4100 Bücher, die in der SIKJM-Bibliothek seit 1984 untergebracht sind. Der Bestand widerspiegelt die persönlichen literarischen und künstlerischen Interessen von Hürlimann: Zum einen stand dabei «Illustration», zum anderen die fantastische Kinderliteratur, beginnend bei den Märchen, im Vordergrund. Weitere wichtige Bestandteile der Sammlung bilden die Geschichte der Entstehung der Sachbücher für Kinder und Jugendliche ab, widmen sich dem Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann, und eine einzigartige Kollektion beschäftigt sich mit den sogenannten «Robinsonaden» und deren Rolle innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur.

Elisabeth Waldmann war Buchhändlerin an der Zürcher Bahnhofstrasse. Wie Hürlimann und Keckeis war sie Mitglied der historischen Kinderbuchgesellschaft Zürich, einem Freundeskreis von Kinderbuchhistorikern und -sammlern. Waldmanns Interesse an Kinderliteratur war mehr von pädagogischer Natur. Sie hatte viele Kontakte zur Lehrerschaft und erhielt auch aus diesen Kreisen Informationen und Inspirationen. Ihre Kinderbuchabteilung war ein beliebter Treffpunkt für Lehrer und Bibliothekare. Gemeinsam mit ihrem Mann Richard interessierte sie sich speziell für Märchen. Rund 9000 Bände übergaben die Erben dem Institut, und diese wurden in die Sammlung Bettina Hürlimann integriert.

Auch Peter Keckeis war ein leidenschaftlicher Sammler. Er, selber Verlagsleiter bei diversen Schweizer Verlagen, sammelte historische Schweizer Kinderliteratur und war massgeblich am Projekt einer Bibliografie der zwischen 1750 und 1900 erschienenen Schweizer Kinderliteratur beteiligt. Er besass rund 400 Kinder- und Jugendbücher, die vor 1900 verlegt wurden.

Die Sammlungen als Zugang zu historischen Kindheitsbildern 

Hürlimanns literarische Lieblingsfigur – Robinson Crusoe aus dem berühmten Roman von Daniel Defoe aus dem Jahr 1719 – schmückt sämtliche Bände ihrer Sammlung in Form eines von Eleonore Schmid (1939–2001) entsprechend gestalteten ExlibrisVgl. z.B. die Umschlaggestaltung von Roland Bollinger in Fassbind-Eigenheer 1992.. Nicht zuletzt im historischen Kontext steht Robinson generell für Kinder- und Jugendliteratur: Entscheidend für den Erfolg dieser Geschichte sind die unzähligen Bearbeitungen weltweit, wird doch Defoes Original noch nicht als eigentliche Kinderliteratur angesehenVgl. Franz, K., «Robinson und Robinsonaden. Vom Abenteuerroman zum Schulklassiker», in: Schilcher, A., Pecher, C. M. (hrsg.), «Klassiker» der internationalen Jugendliteratur. Kulturelle und epochenspezifische Diskurse aus Sicht der Fachdisziplinen, Bd. 1, Baltmannsweiler 2012, S. 55–82. Hier S. 57, 60 und 63.. Im deutschsprachigen Raum waren bereits früh die Bearbeitungen von Joachim Heinrich Campe und Johann Karl Wezel um das Jahr 1780 prägendVgl. Kümmerling-Meibauer, B., Kinder- und Jugendliteratur. Eine Einführung, Darmstadt 2012. Hier S. 39–40.. Aktuell zu erwähnen ist der schweizerische Robinson des Berner Pfarrers Johann David Wyss, der sein Werk gegen Ende des 18. Jahrhunderts verfasste. Diese Adaption ist bei uns zwar wenig geläufig, zählt neben Spyris Heidi aber zu den international bekanntesten Schweizer Kinderbüchern – letztes Jahr veröffentlichte der Autor Peter Stamm seine Nacherzählung dieser GeschichteVgl. Wurzenberger, G., «Die Wildnis als Abenteuerspielplatz», Buch & Maus, Heft 4 (2012), S. 5–7. Hier S. 5.. Die moralische wie pädagogische Grundhaltung von Robinson Crusoe wird nicht als einziger Grund für die Langlebigkeit des Stoffes betrachtet: Genauso entscheidend ist der Umstand, dass Robinson bald Gegenstand der Populärkultur wurde und Erwachsene diesen nostalgisch mit Kindheit generell in Verbindung brachtenVgl. O’Malley, A., Children’s Literature, Popular Culture, and Robinson Crusoe, Basingstoke 2012. Hier S. 156–157..

Wenn einzelne Werke altern, bleiben an ihnen Spuren ihrer Zeit haften: Kinder- und Jugendliteratur steht kulturell bedingt eng mit der Entstehung der bürgerlichen Kindheit in Verbindung und kann so nur in Abgrenzung zum Erwachsensein gedacht werdenVgl. Ulrich, A. K., «Was kann die Kinderliteraturforschung zu einer Anthropologie der Kindheit beitragen?», in: Dies. (hrsg.), Schrift-Kindheiten. Das Kinderbuch als Quelle zur Geschichte der Kindheit, Zürich 2002 (1995), S. 147–158. Hier S. 150.. Anna Katharina Ulrich sieht Kinderbücher als Spiegel eines «literarischen Dialogs der Erwachsenen mit Kindern» sowie als «Bruchstelle zwischen Erziehung und Spiel» – so sei diese Gattung für beide Seiten attraktivVgl. Ulrich, A. K., «Messer, Gabel, Scher und Licht. Kinderliteratur als Zeitzeichen», in: Dies. (hrsg.), Schrift-Kindheiten. Das Kinderbuch als Quelle zur Geschichte der Kindheit, Zürich 2002 (1991), S. 25–46. Hier S. 25–28.. Kindheit, verstanden als ein von Erwachsenen geschaffener Kulturraum, wurde im Lauf der Zeit mit entsprechenden Erziehungs- und Freizeiteinrichtungen, mit Spielzeug und Medien ausgestattet. Sozusagen als «Hüterin» der Kinder- und Jugendliteraturen ist etwa die öffentliche Bibliothek als ein solcher Raum zu betrachten: «Kinderbücher zeigen, wie die ‹richtige›Kindheit zu denken wäre, und halten den Benützern (Kindern und Erwachsenen) die entsprechenden Vor- und Schreckbilder wie Spiegel vor. Da sich die Idealvorstellungen im Lauf der Zeit verändern, kann man im Spiegel der Kinderliteratur die geschichtliche Ausprägung der Beziehung zwischen ‹Gross›und ‹Klein› sehen.»1 

Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Kindern immer mehr ein eigener sozialer Wert sowohl für die Familie wie auch für die Gesellschaft zugesprochen – für eine gelingende Zukunft muss dieser Wert von den älteren Generationen «gepflegt und gefördert» werdenVgl. Honig, M.-S., «Lebensphase Kindheit»,in: Abels, H. et al., Lebensphasen. Eine Einführung, Wiesbaden 2008, S. 9–76. Hier S. 36.. So müssen sich gerade öffentliche Bibliotheken heute in einem Dazwischen von Bildungsdruck und Freizeitvergnügen zurechtfinden. Ihre Funktionen sind von historisch bedingten Vorstellungen geformt – die Engagements von Bibliotheken in der jeweils eigenen Öffentlichkeitsarbeit sind Manifestationen davon.

Demgegenüber muss festgehalten werden, dass die Kinderbücher der am SIKJM beheimateten Sammlungen weniger einen historischen Markt oder eine bibliothekarische Tätigkeit, sondern vielmehr spezifische Sammlungsstrategien repräsentieren. Die Bestände verdeutlichen, wie Kinder- und Jugendliteratur seit Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend auch das Interesse von Bibliophilen auf sich gezogen hat.

Bibliotheks- und Leseförderungsprojekte 

In den letzten Jahren standen diverse Bibliotheksprojekte zur Steigerung der Sichtbarkeit der Bestände im Vordergrund. Die SIKJM-Bibliothek ist seit 1999 Mitglied des NEBIS-Verbunds. Ein Rekatalogisierungsprojekt zur Erschliessung der obengenannten Sammlungen und weiterer institutseigener Bestände, die vor dem Jahr 2000 mit einem anderen Bibliothekssystem erfasst wurden, steht kurz vor dem erfolgreichen Abschluss. Das kooperative Digitalisierungsprojekt, das gemeinsam mit der ETH-Bibliothek 2008 verwirklicht werden konnte, ermöglichte die retrospektive Erfassung sämtlicher Titelblätter und Inhaltsverzeichnisse der Fachbibliothek sowie die Digitalisierung von Bildmaterialien. Die nationale Plattform «e-rara.ch», Teil des Innovations- und Kooperationsprogramms «e-lib.ch: Elektronische Bibliothek Schweiz», stellt der Öffentlichkeit u.a. eine Auswahl von 300 Kinder- und Jugendbüchern des SIKJM mit schweizerischem Bezug zur Verfügung (z.B. eine frühe französischsprachige Bilderbuchausgabe des schweizerischen Robinsons sowie die Heidi-Erstausgabe von 1880). Die gesamten Texte und Bilder können kostenlos heruntergeladen werden; eine Mitgliedschaft ist nicht erforderlich. Die Kinder- und Jugendbücher des 18. und 19. Jahrhunderts auf Deutsch und Französisch stellen eine ausgezeichnete Forschungsgrundlage zur Kinder- und Jugendliteratur und -kultur in der damaligen Schweiz dar.

Weiter sind am SIKJM diverse Projekte angesiedelt, die sich mit der Vermittlung von Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen. Prominent zu erwähnen sind hier die «Schweizer Erzählnacht», ein Gemeinschaftsprojekt mit Bibliomedia und UNICEF Schweiz, sowie «Buchstart», ein Projekt zur Frühsprachförderung mit massgeblicher Mitwirkung von öffentlichen Bibliotheken. «Schriftkultur» ist ein spezifisches Merkmal unserer heutigen Gesellschaft, die «ein hohes Mass an allgemeiner Schriftkenntnis» voraussetzt2. Auch aktuelle Kinder- und Jugendliteratur ist vor diesem Hintergrund zu diskutieren.

www.sikjm.ch

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Roger Meyer

Leiter der Bibliothek am Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM

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Bruno Wegmann

Assistent am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich 

  • 1 Vgl. Ulrich, A. K., 2002 (1991): 28.
  • 2 Vgl. Ulrich,A.K.,Zürich2002(1995):147.

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Les collections de livres pour enfants de Bettina Hürlimann, Elisabeth Waldmann et Peter Keckeis forment le cœur de la bibliothèque du SIKJM. Au même titre que les tâches et les projets de l’institut, les collections de la bibliothèque – y compris les archives Johanna Spyri – ont une dimension internationale.

La littérature pour enfants peut être envisagée comme un moyen de connexion «entre» adultes et enfants. Dans cette perspective, les «adultes» définissent socialement et historiquement ce que serait «l’enfance», y compris dans les formes matérielles. Que des livres pour enfants puissent susciter l’intérêt des bibliophiles, les fonds de l’institut en témoignent.

A travers diverses collaborations, le SIKJM initie à côté des projets de bibliothèque des actions de promotion de la lecture pour permettre aux enfants et aux jeunes d’accéder à «leurs» médias.