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2016/3 Vernichten, um zu bewahren?

Archive und Vergangenheitsarbeit: Erfahrungen aus Tunesien und den Philippinen

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Archive mit Dokumenten, die Menschenrechtsverbrechen beweisen, sind essenziell für die Vergangenheitsarbeit. Doch wie weiter, wenn der Zugang zu solchen Dokumenten verwehrt bleibt? Wie können durch Krieg und Naturkatastrophen bedrohte Archive mit wichtigen Beweisen für die Vergangenheitsarbeit gesichert werden? Solche Fragen stehen im Zentrum des Projektes Archive und Vergangenheitsarbeit, einem gemeinsamen Projekt der Schweizerischen Friedensstiftung, swisspeace, dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA und dem Schweizerischen Bundesarchiv.

Nach einem bewaffneten Konflikt oder einer Diktatur gibt es oft eine Vielzahl von verschiedenen Narrativen und «Wahrheiten» zu den Ursachen und Geschehnissen des vergangenen Unrechts. Für eine nachhaltige Aufarbeitung der Vergangenheit, beispielsweise im Rahmen einer Wahrheitskommission oder von Gerichtsprozessen, ist deshalb eine solide dokumentarische Grundlage mit Fakten zu den begangenen Menschenrechtsverletzungen, den Strukturen, die diese begünstigt haben und Hinweisen zu den Tätern und Opfern unerlässlich. Neben Interviews mit Zeugen, Opfern und deren Angehörigen können hier schriftliche Beweise aus nicht staatlichen (z.B. Nichtregierungsorganisationen oder internationalen Organisationen) oder staatlichen Archiven (z.B. Militär oder Polizei) eine wichtige Rolle spielen. Vorausgesetzt ist jedoch, dass diese Archive sicher, gut betreut und zugänglich sind, wie Erfahrungen aus Tunesien und den Philippinen zeigen. 

Schwieriger Zugang zu staatlichen Archiven: Suche nach Alternativen

2014 wurde in Tunesien eine Wahrheitskommission (Instance Vérité et Dignité, IVD) geschaffen. Ihre Aufgabe ist es, Menschenrechtsverletzungen, welche unter vergangenen Regimen zwischen 1955 und 2013 begangen wurden, zu untersuchen, insbesondere Verbrechen unter Ben Ali, der Tunesien von 1987 bis 2011 autokratisch regierte. Die Wahrheitskommission soll bestimmen, wie die Opfer entschädigt werden und wie das schwierige Erbe der Diktatur aufgearbeitet werden kann.1

Um der Wahrheitskommission den Zugang zu Informationen und Beweisen, die für die Aufarbeitung der Verbrechen von Bedeutung sein könnten, zu erleichtern, wurde sie per Gesetz dazu befugt, alle privaten und öffentlichen Archive einzusehen.2

Trotz intensiver Bemühungen wurde den Kommissionsmitgliedern bis jetzt aber noch keinen Zugang zu den Archiven der Polizei und des Präsidialamtes gewährt. Darin werden wichtige Beweise zu den korrupten Machenschaften des Ben-Ali-Clans und den Menschenrechtsverletzungen der Polizei an der tunesischen Bevölkerung vermutet.

Dies ist kein Einzelfall. In vielen Kontexten gestaltet sich der Zugang zu staatlichen Archiven und insbesondere zu Archiven von Polizei, Militär oder Gerichten als schwierig. Nach einem bewaffneten Konflikt oder dem Sturz einer Diktatur sind oft noch dieselben Eliten in den staatlichen Institutionen an der Macht. Zudem werden Polizei und Militär nicht selten nur ungenügend reformiert. Der Widerstand solcher Institutionen, ihre Archive zu öffnen, die allenfalls auch eigene Verbrechen belegen und somit Gerichtsprozesse nach sich ziehen können, ist daher meist gross.

Wenn die Türen von staatlichen Archiven für die Vergangenheitsarbeit verschlossen bleiben, sind Dokumente von nationalen zivilgesellschaftlichen oder internationalen Organisationen eine wichtige Alternative. Im Fall von Tunesien haben zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und internationale Organisationen über Jahre akribisch Menschenrechtsverletzungen dokumentiert, die unter den verschiedenen Regimen begangen wurden. swisspeace unterstützt die Wahrheitskommission in Tunesien deshalb unter anderem darin, eine Übersicht über die relevanten Archivbestände im In- und Ausland zu bekommen.

Philippinen: wichtige Archive für die Vergangenheitsarbeit in Gefahr

In den Philippinen laufen zurzeit verschiedene Bemühungen, vergangenes Unrecht aufzuarbeiten. Zum einen wurde 2014 im Rahmen desFriedensvertrages zwischen der philippinischen Regierung und der Islamischen Befreiungsfront der Moros (MILF)3

eine Kommission für Vergangenheitsarbeit und Aussöhnung (Transitional Justice and
Reconcilitation Commission, TJRC)4geschaffen.

Die Kommission hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht mit Empfehlungen, wie der seit den 1970erJahren andauernde blutige «Bangsamoro-Konflikt» in Mindanao aufgearbeitet und was zur Aussöhnung der Konfliktparteien beigetragen werden könnte.5

Zum anderen werden derzeit gegen 75 000 Anträge auf Entschädigungszahlungen für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen während der Regierungsperiode von Präsident Ferdinand Marcos (1972–1986) geprüft.6

Menschenrechtsorganisationen in den Philippinen haben umfangreiche Archive mit detaillierten Beweisen für Menschenrechtsverletzungen während der Marcos-Diktatur und dem Konflikt in Mindanao angelegt. Diese Dokumente – unter anderem Interviews mit Opfern der Gräueltaten, medizinische Atteste zu Folterungen und Todesurkunden – können zur Wahrheitsfindung beitragen und allenfalls auch in Gerichtsprozessen gegen mutmassliche Täter verwendet werden. Sie sind ebenfalls wichtig, weil sie von Opfern der Marcos-Diktatur und ihren Angehörigen eingesetzt werden können, um ihren Antrag auf Entschädigung glaubhaft zu machen. Darüber hinaus können sie dereinst auch in Gedenkstätten und Museen verwendet werden, um die Gesellschaft über die begangenen Verbrechen aufzuklären und um zukünftige Generationen an die düstersten Kapitel der Geschichte der Philippinen zu erinnern.

Obwohl diese vorhandenen Archivbestände extrem wertvoll sind, hat kaum eine der Organisationen die Kapazitäten für eine langfristige Aufbewahrung dieser Dokumente. Den Organisationen fehlt es an Zeit, Personal, finanziellen Mitteln und Archivexpertise, um die Bestände fachgerecht zu sichern, zu erschliessen und langfristig zu betreuen. Bereits sind wichtige Dokumente Überschwemmungen, Termiten, dem feuchten Klima oder dem schieren Platzmangel zum Opfer gefallen.

Auch staatliche Behörden, wie die Polizei oder das Militär, scheinen nicht vollauf in der Lage zu sein, ihre Archive fachgerecht zu unterhalten. Für die Vergangenheitsarbeit potenziell wichtige Unterlagen werden meist nach der Aufbewahrungsfrist zerstört. Zudem mangelt es dem Nationalarchiv an Ressourcen und auch an Platz, um die für die Vergangenheitsarbeit so zentralen Bestände zu übernehmen.

Für die Vergangenheitsarbeit wichtige Archivbestände sind in den Philippinen deshalb in Gefahr. Damit diese Unterlagen auch künftigen Generationen zur Verfügung stehen, ist eine Unterstützung zur Sicherung dieser Dokumente vor Ort dringend nötig.

Für eine nachhaltige Aufbearbeitung der Vergangenheit sind solide dokumentarische Grundlagen unerlässlich, weshalb schriftliche Beweise aus staatlichen wie nicht staatlichen Archiven eine zentrale Rolle spielen.

Weltweite Bedrohung für Archive mit relevanten Dokumenten für die Vergangenheitsarbeit

Nicht nur in den Philippinen, sondern weltweit sind Archive, die Informationen zu Menschenrechtsverletzungen und/oder Verletzungen des internationalen humanitären Völkerrechts enthalten, bedroht – sei es aufgrund politischer Unruhen, Umstürzen, bewaffneter Konflikte, Naturgefahren, Klimaerwärmung oder fehlender Ressourcen.

In Ägypten wurden während den Aufständen des Arabischen Frühlings wichtige Dokumente zerstört. Ein im Internet kursierendes Video, das während des Sturms des Hauptgebäudes der ägyptischen Geheimpolizei gedreht wurde, zeigt Berge von geschreddertem Papier.7


Offensichtlich versuchte die Geheimpolizei, möglichst viele Informationen über ihre Machenschaften und ihr ausgeklügeltes System von Spitzeln rechtzeitig zu vernichten.8Auch in aktuellen Konflikten wie in Syrien oder Libyen ist das Risiko gross, dass wichtige Dokumente entweder verloren gehen oder von den verschiedenen Konfliktparteien bewusst zerstört werden, um Beweise für die eigenen Verbrechen zu vernichten.

Syrische, libysche und ägyptische Organisationen aus der Zivilgesellschaft haben deshalb Initiativen gestartet, um wichtige Dokumente, Videos und Fotos von Menschenrechtsverletzungen und Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht systematisch zu sammeln, zu archivieren und für eine zukünftige Aufarbeitung aufzubewahren. Das Syria Justice and Accountability Centre zum Beispiel hat bereits etliche Terabytes an Videos, Fotos und Dokumente zu begangenen Menschenrechtsverletzungen im Syrienkonflikt gesammelt. Auf der eigens entwickelten Datenbank können Dokumente gespeichert und analysiert werden.9

Das Schweizer Engagement für gefährdete Archive

Auch swisspeace setzt sich im Rahmen des Projektes Archive und Vergangenheitsarbeit (siehe Box) in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA und dem Schweizerischen Bundesarchiv für die Sicherung von gefährdeten Archiven ein, welche für die Vergangenheitsarbeit relevante Dokumente enthalten.

Auf den Marshallinseln, die von den USA über Jahrzehnte für Atomversuche genutzt wurden, drohen wichtige Unterlagen zu den Entschädigungszahlungen an die Opfer der atomaren Tests vom steigenden Meeresspiegel zerstört zu werden. Von der Schweiz entsandte Archivare unterstützen deshalb die Marshallinseln darin, eine digitale Kopie der Dokumente zu erstellen, die schliesslich im Schweizerischen Bundesarchiv aufbewahrt werden wird.10Das Bundesarchiv hat auch jahrelang eine digitale Kopie des historischen Archivs der Nationalpolizei von Guatemala gesichert, damit die Dokumente im Falle einer Zerstörung der Originale und der Kopien vor Ort weiterhin erhalten bleiben und verwendbar sind.11Die guatemaltekische Nationalpolizei wurde mit dem Friedensabkommen von 1998 aufgelöst, da sie in gravierende Menschenrechtsverletzungen involviert war. Die von der Nationalpolizei gelagerten Dokumente spielen eine zentrale Rolle im Kampf gegen die Straflosigkeit in Guatemala. Noch heute wird das Material aus dem Archiv der Nationalpolizei von Opfern konsultiert und in Prozessen gegen hohe Militärs und Polizeibeamte verwendet.

Im Rahmen des Projekts Archive und Vergangenheitsarbeit fördert swisspeace gemeinsam mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA und dem Schweizerischen Bundesarchiv auch den nationalen und internationalen Dialog zum Thema gefährdete Archive. In diesem Sinne hat swisspeace im Oktober letzten Jahres eine internationale Konferenz organisiert, um gemeinsam mit hundert Personen aus aller Welt in Bern zusammen nach Lösungen für gefährdete Archive zu suchen.12Zudem veranstaltete swisspeace mit interessierten Schweizer Akteuren am 2. Juni 2016 einen runden Tisch zum Thema «Die Schweiz als Bergungsort für gefährdete Archive?». Dies vor dem Hintergrund, dass immer mehr Staaten und Nichtregierungsorganisationen vermehrt sichere Bergungsorte (sogenannte «safe havens») für ihre gefährdeten Archive ausserhalb der eigenen Landesgrenzen suchen. Des Weiteren führt swisspeace im Oktober 2016 einen internationalen Austausch zwischen Vertretern von Staaten, Nationalarchiven, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen zum Thema Bergungsorte für gefährdete Archive durch. Staaten und Organisationen, die entweder ihre gefährdeten Archive sichern oder einen Bergungsort für solche Archive anbieten möchten, werden erstmals in der Schweiz zusammenkommen.13


Das Projekt Archive und Vergangenheitsarbeit

Das Projekt Archive und Vergangenheitsarbeit wurde 2014 vom Eidgenössischen Department für auswärtige Angelegenheiten EDA, dem Schweizerischen Bundesarchiv und der Schweizerischen Friedensstiftung, swisspeace, ins Leben gerufen.14

Das Projekt unterstützt Staaten, Nichtregierungsorganisationen und internationale Organisationen im Bereich der Sicherung, Betreuung von und dem Zugang zu Archiven. Zudem werden relevante nationale und internationale Akteure bezüglich der zentralen Rolle und Funktion von Archiven in der Friedensförderung, insbesondere im Rahmen der Vergangenheitsaufarbeitung, sensibilisiert. Das Projekt versteht sich als Plattform und Netzwerk, um den Wissensaustausch zu diesem Schnittstellenthema zu fördern. Es werden regelmässige Konferenzen zum Thema Archive und Vergangenheitsarbeit organisiert, und eine Mailingliste mit über 800 Mitgliedern verstärkt den Austausch von Informationen unter Fachleuten weltweit.15
Zudem unterstützt das Projekt auch die Vergangenheitsarbeit in diversen Kontexten konkret in archivrelevanten Fragen. Dabei werden staatliche und nicht staatliche Organisationen kontextbezogen beraten und mit Expertinnen und Experten vernetzt. Seit 2014 berät swisspeace zum Beispiel die Wahrheitskommission in Tunesien16 zu Fragen rund um Archive und Vergangenheitsarbeit. In angewandter Forschung werden schliesslich konkrete Aspekte und Fragen im Bereich Archive und Vergangenheitsarbeit erforscht. Regelmässig erscheinen in der Reihe der «swisspeace Essentials» Publikationen zum Thema.17

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Nicola Diday

Er hat Politik des Nahen Ostens und Nordafrika an der London School for Oriental and African Studies, SOAS, studiert. Bei swisspeace arbeitet er schwerpunktmässig zu Archiven und Vergangenheitsbearbeitung. 2015 verfasste er eine Studie zu Archiven zum Konflikt in Mindanao zuhanden der Transitional Justice and Reconciliation Commission in den Philippinen (TJRC).

  • 1 Mehr Information zur Wahrheitskommission und ihrem Mandat auf: http://www.ivd.tn/fr/ (Zugriff am 27.07.2016).
  • 2 Der Artikel 40 des Gesetzes zur Transitionsjustiz in Tunesien (Lois sur la justice transitionnelle en Tunisie) gibt der IVD weitgehende Kompetenzen betreffend den Zugang zu Archiven «Pour accomplir de ses missions, l’instance dispose des prérogatives suivantes : l’accès aux archives publiques et privés(sic !) nonobstant toutes les interdictions prévues par la législation en vigueur,[…]» (http://www.legislation-securite.tn/fr/node/32961) (Zugriff am 27.07.2016)
  • 3 Die MILF setzt sich für einen unabhängigen muslimischen Staat im Süden der Philippinen ein. 
  • 4 Mehr Informationen zur TJRC finden sich auf: http://tjrc.ph/ (Zugriff am 28.07.2016).
  • 5 Der Bericht ist auf der Website des TJRC einsehbar: http://tjrc.ph/skin/vii_tjrc/p... (Zugriff am 27.07.2016).
  • 6 Details zum Entschädigungsprozess finden sich auf: http://www.hrvclaimsboard.gov.... (Zugriff am 27.07.2016). Ungefähr ein Drittel der Mittel, die dem Human Rights Victims Claims Board für Wiedergutmachungszahlungen zur Verfügung stehen, wurden mit sogenannten Potentatengeldern finanziert, welche Marcos einst illegal auf Schweizer Bankkonten transferiert hatte.
  • 7 Das Video kann auf Youtube angesehen werden: (Zugriff am 27.07.2016)
  • 8 Das Projekt «Diktatur bewältigen» hat einen interessanten Film zu diesem Thema online veröffentlicht: http://confronted-past.org/ (Zugriff am 27.07.2016).
  • 9 Mehr Informationen finden sich hier https://syriaaccountability.or... (Zugriff am 27.07.2016). und hier https://syriaaccountability.or... am 27.07.2016).
  • 10 Mehr Informationen zu diesem Projekt finden sich auch hier: http://archivesproject.swisspe... (Zugriff am 28.07.2016). 
  • 11 Die Sicherheitskopie wird neu vom EDA aufbewahrt. 
  • 12 Für mehr Informationen, Videos und den Bericht der Konferenz, siehe: http://archivesproject.swisspe... (Zugriff am 27.07.2016). 
  • 13 Runder Tisch: Die Schweiz als Bergungsort für gefährdete Archive?, 2. Juni 2016: http://archivesproject.swisspe... (Zugriff am 27.07.2016)

Abstract

Dans cet article, Nicola Diday, Program Officer auprès de swisspeace, décrit l’importance du rôle des archives pour prouver les violations des droits de l’homme dans le traitement du passé et prend les exemples de la Tunisie et des Philippines pour en illustrer les chances et les enjeux. Il montre également comment, dans le cadre du projet « Archives et traitement du passé », swisspeace, le Département fédéral des affaires étrangères (DFAE) et les Archives fédérales s’impliquent dans la protection des archives menacées qui contiennent des documents pertinents dans le traitement du passé.