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2017/3 Metadaten – Datenqualität

Records in Contexts – vom Baum zum Netz

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Im September 2016 wurde anlässlich des Kongresses des Internationalen Archivrats (ICA) in Seoul unter dem Namen «Records in Contexts» (RiC) der erste Entwurf für einen neuen, umfassenden archivischen Verzeichnungsstandard vorgestellt, der an die Stelle der existierenden vier ICA-Standards ISAD(G), ISAAR(CPF), ISDF und ISDIAH treten soll.

Was in Seoul von Vertretern der vom ICA eingesetzten Expert Group on Archival Description (EGAD) vorgestellt wurde,1 ist nun aber deutlich mehr als eine blosse Harmonisierung der bestehenden Verzeichnungsstandards, es ist vielmehr der Versuch, die aus dem frühen 20. Jahrhundert stammende archivische Verzeichnungspraxis den Bedingungen und Möglichkeiten einer durch Digitalisierung geprägten Gegenwart anzupassen. Das bedeutet, dass an die Stelle einer geschlossenen, strikt hierarchisch organisierten Tektonik ein offenes Netz möglicher Beziehungen tritt. Damit reagiert RiC auf die fundamentale Tatsache, dass mit der datenbankbasierten Verwaltung von Metadaten das für alle analogen Ordnungen herrschende Prinzip der eindeutigen Zuordnung ausser Kraft gesetzt ist. Die in der Praxis längst vollzogene Emanzipation von der Materiallogik des klassischen Findbuchs ermöglicht die Repräsentation weitaus komplexerer Beziehungen zwischen den verschiedenen Verzeichniselementen als simple Unter- und Überordnungsverhältnisse.

Zeitgleich mit der Präsentation in Seoul publizierte die EGAD zum Zweck der Vernehmlassung durch die internationale Archivgemeinschaft ein konzeptuelles Modell (RiC-CM), das die grundlegenden Entitäten, ihre Eigenschaften und Beziehungen definiert.2 Eine daraus abgeleitete Ontologie (RiC-O) auf der Basis des vom World Wide Web Consortium (W3C) entwickelten Standards RDF (Resource Description Framework) und OWL (Ontology Web Language) wurde angekündigt, ist aktuell aber noch in Arbeit.

Mit der Ontologie fehlt bisher auch eine Grundlage für eine Implementierung in ein Archivinformationssystem und damit die Möglichkeit praktischer Erfahrung. Allerdings weist Bogdan Floran Popovici in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass datenbankbasierte Archivinformationssysteme – zumindest rudimentär – in vielen Fällen bereits heute die strikt hierarchischen Repräsentation in Richtung eines offenen Beziehungsnetzes erweitern.3. Die damit verbundene Flexibilisierung archivischer Verzeichnung ist mit Sicherheit nicht bloss eine temporäre Erscheinung, handelt es sich dabei doch letztlich um eine Konsequenz der unumkehrbaren Emanzipation vom Papier als dem primären Informationsträger.

In dieser Perspektive stellt der neue ICA-Standard den Versuch dar, die Grundsätze archivischer Erschliessung unter grundlegend veränderten technischen Bedingungen neu zu formulieren. In anderen Worten: Mit RiC sollen die fundamentalen archivischen Prinzipien – das Provenienzprinzip und das Prinzip der Bewahrung und Verdeutlichung der ursprünglichen Zusammenhänge von Überlieferungsgut – ihren Platz erhalten in der Welt der verknüpfbaren Metadaten.

Der neue Standard bedeutet aber nicht nur eine Reformulierung der bewährten archivischen Grundsätze, sondern gleichzeitig auch ihre Aktualisierung im Sinne einer Erweiterung: RiC erlaubt neben einfachen Über- und Unterordnungsverhältnissen, wie sie nicht zuletzt ISAD(G) kodifiziert hat, neu auch horizontale und nicht zuletzt plurale Beziehungen zwischen Entitäten. Anders als in der Logik der Baumstruktur muss eine Verzeichnungseinheit nicht mehr ausschliesslich einer Gruppe zugeordnet werden – sie kann ohne weiteres zu verschiedenen Gruppen gleichzeitig gehören. Mit der Möglichkeit einer solchen sowohl-als-auch-Zuordnung erweitern sich die Gestaltungsmöglichkeiten bei der Verzeichnung von Archivbeständen enorm. Das kommt vor allem Beständen mit komplexer Überlieferungsgeschichte zugute. Eine solche lässt sich bisher nur in Prosaform als Bestandsgeschichte beschreiben, aber nicht auf Ebene der Struktur abbilden, wie es der archivischen Verzeichnungslogik eigentlich entsprechen würde.

Ein Beispiel für die Komplexität einer Überlieferungsgeschichte liefert Eric Ketelaar, wenn er den Umgang mit Akten aus der Zeit der Deutschen Besetzung der Niederlande beschreibt.4 Ketelaar schildert, wie im Rahmen der organisierten Plünderungen jüdischen Besitzes bei den beteiligten deutschen und niederländischen Stellen Unterlagen entstanden, die nach dem Krieg von anderen Stellen zur Abklärung von Ansprüchen der Opfer im Prozess der Restitution genutzt wurden. Heute würden dieselben Unterlagen wiederum verwendet, um in der Zeit des Zweiten Weltkriegs verschollene Kunstwerke aufzuspüren. In diesem Fall ist die historische Bedeutung von Archivgut nicht allein durch den ursprünglichen Kontext bestimmt. Aus der Signifikanz solcher Prozesse der De- und Rekontextualisierung folgt für Ketelaar die Notwendigkeit einer Erweiterung eines allein auf «Ursprung» fixierten Provenienzbegriffs in Richtung einer auf Verwendungszusammenhänge ergänzten «Kontextualität». Auf Strukturebene bedeutet Ketelaars Forderung den Abschied vom klassischen Modell der Tektonik; ist es doch in erster Linie die innere Logik der Baumstruktur, die bei der Verzeichnung zur Eindeutigkeit und damit zum Ausschluss anderer, für die Bedeutung des Archivguts möglicherweise ebenso prägender, Beziehungsgemeinschaften zwingt.

Der neue ICA-Standard kommt aber nicht nur den schwierigen Fällen zugute. Über die Netzstruktur lassen sich ohne Weiteres auch vergleichsweise einfache hierarchische Beziehungen abbilden. Eine Verzeichnung von Archivgut nach RiC ermöglicht vor allem die Möglichkeit, die entsprechenden Metadaten mit anderen zu verknüpfen – nicht allein über die Grenzen einer Institution, wie bei den bestehenden Archivportalen, sondern im Sinne von Linked Open Data auch über die Grenzen der Archivwelt hinaus. Der Ethikkodex der Archivar_innen verpflichtet diese dazu, sich für die weitest mögliche Benutzung von Archivgut einzusetzen.5. Das sollte auch für die Metadaten gelten, die im Rahmen seiner Verzeichnung entstehen. RiC ist ein Schritt in diese Richtung.

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Philipp Messner

Philipp Messner ist Archivar und Kulturwissenschaftler. Neben einer Anstellung am UZH Archiv, dem zentralen Archiv der Universität Zürich, ist er in verschiedenen Archivprojekten im Kulturbereich involviert. Er ist Mitglied der AG Normen und Standards des VSA.

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Der neue Standard «Records in Contexts» (RiC) vereint die bestehenden vier ICA-Verzeichnungsstandards und stellt zudem einen Versuch dar, die Prinzipien der archivischen Erschliessung zu aktualisieren. Während die traditionelle archivische Verzeichnungspraxis die abzubildenden Entstehungszusammenhänge in strikt hierarchischer Form repräsentiert, ist RiC als Beziehungsnetz konzipiert das als solches sowohl parallele als auch plurale Beziehungen zwischen einzelnen Elementen erlaubt.

La nouvelle norme « Records in Context » (RiC) réunit les quatre normes existantes de l’ICA et représente un essai d’actualiser les principes de description archivistique. Alors que la pratique traditionnelle en archivistique est d’élaborer des inventaires sous une forme strictement hiérarchique, les RiC sont conçus plutôt comme un réseau de relations qui doit permettre des liens parallèles et multiples entre des éléments individuels.