Editorial: Abbild und Inszenierung der Gesellschaft
arbido beleuchtet, wie gesellschaftliche Realitäten in Archiven und Bibliotheken abgebildet werden – oder eben nicht – und wie Archive und Bibliotheken wiederum das Bild der Gesellschaft beeinflussen.
Den Reichen und Bleichen gehört die Geschichte. Während Jahrhunderten hatten vor allem weisse Männer die Macht und die Mittel, ihr Leben und ihr Wirken zu dokumentieren und für die Nachwelt zu erhalten. Die Geschichtswissenschaften haben dieses Problem, das zu einer eingeschränkten Sicht auf die Vergangenheit führt, in den 1960er-Jahren erkannt und mit dem Ansatz der «Geschichte von unten» versucht, Gegensteuer zu geben, um eine Geschichtsschreibung zu ermöglichen, die in ihrer Quellenbetrachtung und -auswertung alle Geschlechter, Hautfarben und sozialen Stellungen inkludiert.
Eine solche ganzheitliche Gesellschaftsbetrachtung bedingt, dass Informationsquellen aller sozialer und kulturellen Gruppierungen bewahrt werden und verfügbar sind.
«Die Sieger schreiben Geschichte», heisst es salopp. Das stimmt allerdings nicht ganz; auch Verlierer und Vergessene halten ihre Geschichte fest, doch war und ist es deutlich schwieriger, ihre Zeugnisse wieder zu finden, weil es lange Zeit an Institutionen gemangelt hat, welche diese konserviert und vermittelt haben. Hier kommen die Archive, Bibliotheken, Dokumentationsstellen und Museen ins Spiel.
Um die Gesellschaft in ihrer ganzen Fülle abzubilden, bedarf es Organisationen und Gruppen, die sich einen Informationsauftrag über die Grundbildung hinaus auferlegen und sich einer Überlieferungsbildung jenseits des klassischen, staatlich geregelten Auftrages verschreiben. Ihnen ist diese Ausgabe von arbido gewidmet: Institutionen, die jene Facetten unserer Gesellschaft abbilden, die in der Überlieferungsbildung untergehen, und all jene Interessen bedienen, die neben dem «Mainstream» ebenfalls ihre Berechtigung haben.
Es sind Bibliotheken, die sich zwischen der Dichotomie von allgemein-öffentlichen und wissenschaftlichen Bibliotheken positionieren, zum Beispiel Spezialbibliotheken, die aus gesellschaftlichen Bewegungen und Strömungen erwachsen sind.
Es sind Archive, die Nischen neben den staatlichen Konservierungsaufträgen abdecken: Privatarchive, wie jene der Freimaurer, die ihre Bestände nur auf Anfrage öffnen, genauso wie öffentlich getragene Archive wie das Schweizerische Sozialarchiv, das mit seinem Sammelspektrum Bereiche für die Forschung abdeckt, die von staatlichen Archiven vernachlässigt werden oder für diese schlicht nicht erreichbar sind.
Die Artikel in dieser Ausgabe von arbido machen deutlich, dass sich spezialisierten Einrichtungen häufig im Kreuzungsbereich zwischen Bibliothek, Archiv und Dokumentationsstelle positionieren. Mit ihrer aktiven Vermittlungsarbeit nähern sich einige obendrein einer musealen Tätigkeit an. Vor Aufkommen des Internets als Tauschplatz für Informationen von und für alle nahmen diese Institutionen zudem oftmals eine Funktion als Treffpunkt und Informationsstelle wahr, wie das Beispiel der von Theo Pinkus gegründeten Buchhandlung und Bibliothek zeigt.
Das Internet war in seinem Urprinzip als Ort angedacht, wo eine gleichberechtigte Vermittlung und Aufbewahrung von Informationen möglich ist. In der Theorie kann jede und jeder dort ihre und seine historische Spur für die Nachwelt hinterlassen. Die Realität aber zeigt, dass sich online wiederholt, was offline zu überwinden versucht wird. Wer über die finanziellen Mittel und das wertvolle Gut Zeit verfügt, kann sich nicht nur eine eigene Bibliothek zusammenstellen und seine eigene Chronistin leisten, sondern hat es auch im Web deutlich einfacher, seine Geschichte zu sichern und zu präsentieren. Darum versucht zum Beispiel Wikipedia mit verschiedenen Initiativen, die Gesellschaft in der Online-Enzyklopädie gleichberechtigter abzubilden als das bis jetzt der Fall ist – nicht zuletzt indem alle Gesellschaftsgruppen dazu aufgerufen werden, den ihnen zustehenden Raum aktiv zu besetzen.
Archive, Bibliotheken und Dokumentationsstellen bestimmen, was die Gesellschaft heute sammelt. Sie entscheiden, was in Zukunft über diese Gesellschaft erzählt wird, was erzählt werden kann. Wir als Berufsleute bilden mit unserer Tätigkeit im I+D-Bereich die Gesellschaft(en) ab. Dieser Verantwortung müssen wir uns bewusst sein und unsere Sammlungspolitik im Hinblick auf die Abbildung und die Inszenierung der Gesellschaft konstant kritisch hinterfragen.