Kommentare Abstract
2020/4 Virtualisierung

Neue Wege in der archivischen Erschliessung – Scopriamoli assieme

Kommentare Abstract

Genau wie das Archivgut sind auch die sie beschreibenden Informationen, die Metadaten, digital geworden. Diese Veränderung ist nicht nur technischer Natur, sondern bringt ebenfalls Veränderungen in der Art und Weise, wie wir die archivische Beschreibung konzipieren, realisieren und zugänglich machen.

Wenn wir über die Dematerialisierung in Archiven sprechen, denken wir in erster Linie an das Archivgut. Heutzutage entstehen Unterlagen, die wir ins Archiv übernehmen, vorwiegend in digitaler Form. Auch unsere analogen Archivalien werden zunehmend digitalisiert, so dass immer grössere Archivbestände als digitale Ressource einem breiten Publikum und Forschenden zur Verfügung stehen. Archive vollziehen den gleichen Schritt im Bereich der Metadaten. Geändert hat sich sowohl der Träger von Metadaten als auch die Art und Weise, wie diese Informationen entstehen, übernommen, verwaltet und verbreitet werden. Wie verlief dieser Wandel? Wie wird sich die Erschliessung von Archivinformationen weiter ändern?

Die Erfindung des Inventars

Archive waren zunächst nicht öffentlich, sondern hatten eine rein interne Funktion. Die verschiedenen Institutionen betrieben ihre Archive, um den Nachweis über ihre Verwaltungs- oder Geschäftsaktivitäten und Ergebnisse ihrer Tätigkeit, wie Urkunden, Verträge, Briefe, usw. zu bewahren. Anfänglich diente ein Inventar eines Archivs nur einem Zweck, nämlich es musste zwei Fragen beantworten: 1. Was habe ich in meinem Archiv? 2. Wie finde ich es? Das schlichte Inventar wurde später mit weiteren Metainformationen ergänzt. Mit der Öffnung der Archive für das Publikum im 19. Jh. wurden die bestehenden Inventare in den Lesesälen aufgestellt, ihre ästhetisch eleganteren Versionen veröffentlicht. Das Inventar war nicht mehr nur ein Arbeitsinstrument der Archivarinnen und Archivare, sondern auch eine Orientierungshilfe im Dickicht der Archivbestände für die Archivbesuchenden.

Seit dem Einzug der Informationstechnologie in den Arbeitsalltag im 20 Jh. und vor allem seit der Verabschiedung des ISAD(G)-Standards durch den Internationalen Archivrat (ICA), hat sich die archivische Arbeit markant verändert. Zum ersten Mal konnte sich das Inventar, das ursprünglich ein einfaches Papierdokument war, zu einer standardisierten datenbankbasierten Beschreibung vom Archivgut entwickeln. Der ISAD(G) erlaubt die Archivbestände in Baumstrukturen nach dem Provenienzprinzip abzubilden.

Es entstanden digitale Archivkataloge, in welchen das Archivgut unabhängig von seiner Form oder den Datenträgern mithilfe von strukturierten Informationen erfasst und verwaltet werden konnten. Jedes Feld im digitalen Archivkatalog hat dabei seine eigene Definition und kann mit einem Wert belegt werden, welcher durch eine einfache oder kombinierte Abfrage automatisch durchsucht werden kann. Die Qualität der Erschliessung wurde dadurch besser, die Art der Erschliessung einheitlicher. Die archivische Arbeit wurde dadurch ein Stück weit professionalisiert. Darüber hinaus hat die standardisierte Erschliessung nach ISAD(G) den Austausch von Metadaten zwischen den Archiven auf nationalen und internationalen Ebenen begünstigt und eine ortsunabhängige Recherche in digitalen Archivkatalogen ermöglicht.

Die Grenzen vom ISAD(G)

Sehen wir uns die Ausbreitung vom ISAD(G)-Standard in der Schweiz genauer an, so stellen wir fest, dass Ziele, die man mit ihm erreichen wollte, tatsächlich nur teilweise erreicht wurden.

Zum einen liegt es daran, dass der ISAD(G) bei Metadaten sehr lange und nicht normierte Texte erlaubt, was die Lesbarkeit und ihre automatisierte Auswertung erschwert. Dieses Problem wurde schon bei der Erstellung der schweizerischen Richtlinie erkannt. Die Richtlinie empfiehlt deshalb in einigen Bereichen die Anwendung von in ISAD(G) nicht vorgesehene Feldern, wie Material bei den Urkunden oder Technikeingaben bei den Bildern. Zum anderen sind hierarchische Strukturen der Archivbestände in relativ grossen Archiven schwer verständlich für die nicht versierten Archivnutzerinnen und -Nutzer. Ihnen fehlen oft vertiefende Sachkenntnisse über den Entstehungskontext und die Struktur von einzelnen Beständen, welche in erster Linie für die Steuerung und Nachvollziehbarkeit der Geschäftsaktivitäten entstanden sind. Daher bleiben ihre Fragen häufig ohne externe Hilfe unbeantwortet, oder ein Teil von relevanten Unterlagen bleibt ihnen verborgen.

Auch ICA wollte den Zugang zu den Archivalien mittels Beschreibung von Aktenbildern nach ISAAR(CPF) oder Funktionen nach ISDF erleichtern. Diese Normen haben sich allerdings kaum durchgesetzt. Das Provenienzprinzip und die hierarchische Beschreibung sind hingegen die Eckpfeiler bei der Verwaltung unserer Archivbestände geblieben.

Ein neues Erschliessungskonzept: Records in Contexts

Die Lancierung des neuen Standards Records in Contexts (RiC-CM) durch ICA hat zum Ziel, die bereits erkannten Nachteile von ISAD(G) bei der Verzeichnung von Archivalien und Archivbeständen zu beseitigen, indem die vier Standards ISAD(G), ISAAR(CPF), ISDF und ISDIAH in ein neues Konzept integriert werden. Dabei wird ein Linked Data Modell angewendet, das eine weitgehende Flexibilität bei der Beschreibung und Verknüpfung von Kontextinformationen erlaubt.1Diese wertvollen Informationen können auch ausserhalb des eigenen Archivs vorliegen, etwa in Bibliotheken und Forschungsinstitutionen, usw. Zudem lassen sich mithilfe von RiC, neben hierarchischen Baumstrukturen auch Netzstrukturen aufbauen. Mittels einer Netzstruktur kann sowohl das «klassische» Provenienzprinzip beibehalten als auch eine plurale Provenienz-Zuordnung2dargestellt werden. Somit kann beispielsweise ein Dossier, das von mehreren Organisationen bearbeitet und generiert wurde, auch als solches verzeichnet werden. Diese sinnvollen Erweiterungen, die verschiedene Informationen mit dem Archivgut verknüpfen, bieten verbesserte Möglichkeiten für die Erforschung von Archivbeständen. In der Schweiz besteht deshalb ein grosses Interesse an der Entwicklung des neuen RiC Standards. Der VSA gründete 2019 die Projektgruppe ENSEMEN, in welcher Mitglieder der beiden Arbeitsgruppen «Normen und Standards» und «Records Management und digitale Archivierung» eine siebenköpfige Kerngruppe bilden, die Grundlagen für die praktische Umsetzung von RiC in der Schweiz erarbeitet.3Die grosse Projektgruppe hilft dabei die Zwischen- und End-Ergebnisse zu reviewen und stellt die Verbindung mit der Archivcommunity sicher.

Die Vorteile von RIC

Neue Beziehungen zwischen Entitäten

Der ISAD(G) erlaubt eine Archivtektonik mittels fünf Stufen (Klassen) aufzubauen. Ein Archiv wird in Bestände unterteilt. Ein Bestand kann in einzelne Serien unterteilt werden. Eine Serie enthält Dossiers, die wiederum einzelne Dokumente enthalten. Andere Beziehungen als «Eltern-Kind» sind zwischen den Klassen nicht möglich. Auf diese Weise entsteht eine hierarchische Baumstruktur.

Abb.1 Darstellung von Archivinformationen mit ISAD(G) und RiC

Beim RiC Standard ist das anders. Die 5 Stufen werden im RiC von insgesamt 22 Entitäten abgelöst, die nicht nur das Archivgut aber auch Aktenbildner, Funktionen usw. beschreiben (s. Abb.24Die Entitäten werden mithilfe der Ontologie RiC-O5weiter präzisiert. Sie können in unterschiedlichen Beziehungen miteinander stehen. Die «Eltern-Kind» Beziehung ist nur eine davon. Es entsteht dabei eine Netzstruktur von Entitäten, die aufeinander verweisen (Linked Data). Dies ermöglicht eine wesentlich flexiblere Strukturierung und eine bessere Darstellung von Entitäten in ihrem vielfältigen Kontext.

Abb.2 Darstellung von Entitäten von RiC

Bessere Zugangsmöglichkeiten zum Archivgut

Heute müssen Archivnutzerinnen und -Nutzer, die beispielsweise im Archiv Informationen zu einer Person suchen, zuerst den Bestand und anschliessend die relevanten Dossiers identifizieren. Erst dann gelangen sie zu den für sie interessanten Unterlagen. Im RiC-Modell hingegen wird die gesuchte Person durch eine Entität repräsentiert. Diese Entität kann auf eine andere Entität verweisen, welche ausserhalb des eigenen Bestands vorhanden ist. Es ist deshalb möglich, innerhalb einer Netzstruktur die Beziehungen zwischen verschiedenen Entitäten aus unterschiedlichen Beständen zu analysieren. Die Suche nach relevanten Informationen kann auch ohne Sachkenntnisse über die Archivtektonik einfacher erfolgen. Die netzartige Darstellung von Informationen und die erweiterten Suchmöglichkeiten können dabei helfen, das bisher scheinbar verborgene Archivgut leichter zu finden.

Schon vor der Herausgabe von RiC hatte einige Schweizerische Archiv6 im Projekt aLOD (Archival Linked Open Data) zusammengearbeitet, um praktische Erfahrungen mit Konzepten von Linked Data zu sammeln. Das Nationalarchiv von Frankreich hat später ein Prototyp mit dem Namen PIAAF entwickelt, das für die Beschreibung von Metadaten das Konzept von RiC und seine Ontologie verwendet. Obwohl diese Anwendung nur ein Prototyp ist, lassen sich die neuen Such- und Darstellungsmöglichkeiten gut erkunden.

Die Grenzen der Archive sprengen

In einem Linked Data Modell haben Entitäten eine eindeutige ID, die URI genannt wird. Auf diese Weise kann eine Entität unabhängig von der Organisation, die sie produziert hat, oder dem Archiv, in dem sie aufbewahrt ist, gefunden werden. Dies ist ein Vorteil nicht nur für Archivnutzende, sondern auch für das Archiv selbst. Wenn beispielsweise zu einer Entität in einem Archiv, die Beschreibung aus einer anderen archivischen Institution passt, kann man auf diese Beschreibung verweisen. Es ist auch möglich, mittels gemeinsamer Ontologie eine Verbindung zwischen Entitäten herzustellen, die in anderen Archiv- und Forschungsinstitutionen oder als Webressourcen vorhanden sind. Dadurch können archivische Datensätze auch für andere Benutzer durchsuchbar und auffindbar gemacht werden. Da der Linked-Data-Ansatz maschinenlesbare Zugriffe unterstützt, erlaubt er eine weitgehende Automatisierung dieser Funktionaltäten.

Es ist naheliegend, dass man Informationen besser durchsuchen oder zusammenzuführen könnte, wenn sie ein Teil eines umfassenderen Informationsnetzes wären. Eine Möglichkeit wäre eigene Entität, zum Beispiel eine Person, nicht selber zu beschreiben, sondern mit einem externen Verzeichnis zur verknüpfen. Derzeit befasst sich auch die AG Normen und Standards mit diesem Thema. Sie prüft im Auftrag des VSA-Vorstandes, welche Vorteile die Verknüpfung von archivischen Daten mit normierten Begriffen hat, die sich in Normdateien7, z. B. GND oder VIAF, usw. befinden.

Fazit

Bei der Dematerialisierung von Archiven geht es nicht nur um das Archivgut, sondern auch um seine beschreibenden Informationen. Während der Begriff Metadaten relativ jung ist, ist die ihm zugrundeliegende Idee des Inventars eine alte archivische Praxis. Die Digitalisierung der Archivarbeit hat zu allmählichen Veränderungen im Bereich der Metadaten geführt. Sie wurden zuerst von ihren physischen Papierträger herausgelöst. Das Konzept vom ISAD(G) half bei der Erstellung von ersten Online-Katalogen. Allerdings war sowohl die Suche nach relevanten Unterlagen im Archiv als auch die Anreicherung von Metadaten oder ihre Verknüpfung mit anderen Quellen schwierig. Die konzeptionellen Grundlagen dieses Metadatenstandards sind noch sehr stark von der analogen Arbeitsweise beeinflusst.

Mit dem Standard Records in Contexts scheint dies nun überwunden zu sein. Mittels Linked Data Modellierung können die archivischen Metadaten genauer beschrieben und maschinenlesbar gemacht werden. Der neue Standard, ermöglicht es, die Barrieren zwischen eignen Beständen als auch zwischen den Archiven zu überwinden, indem die Suche nach Informationen, die Zusammenführung von verschiedenen Informationen und die vernetze Suche nach den Inhalten begünstigt wird.

Das neue Linked Data Paradigma verabschiedet sich von einer strikten Baum-Tektonik und überführt diese in eine Netzstruktur, welche eine intuitive Suche nach Informationen unterstützt. Diese neue Herangehensweise wird sicherlich unsere archiv-interne Arbeitsweise verändern und die Zusammenarbeit zwischen den archivischen und Forschung-Institutionen sowie Datenproduzenten fördern. Die Umstellung unserer bisherigen Erschliessungspraxis auf den neuen RiC-Standard kann etappenweise geschehen. Mit Prototypen und Anwendungsbeispielen können Archive Erfahrungen sammeln, teilen und sich pragmatisch auf die Umstellung vorbereiten.

Begriffe und Abkürzungen

ISAD(G): General International Standard Archival Description. Die 1. Version wurde 1994 veröffentlicht und 2000 revidiert.
ISAAR (CPF): International Standard Archival Authority Record for Corporate Bodies, Persons, and Families.
ISDF: International Standard for Describing Functions.
RiC-CM: Das RiC Konzeptmodell wurde 2016 in der Version 0.1 publiziert. Die Version 0.2 ist im Dezember 2019 erschienen.
ISDIAH: International Standard Description of Institutions with Archival Holdings.
PIAF: Pilote d'Interopérabilité pour les Autorités Archivistiques Françaises.
URI: Uniform Resource Identifier.
GND: Gemeinsame Normdatei.
VIAF: Virtual International Authority File.

Merzaghi Michele 2017

​Michele Merzaghi

Michele Merzaghi ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Berater im Bereich elektronische Geschäftsverwaltung (GEVER) beim Schweizerischen Bundesarchiv. Seit 2010 ist er der Präsident der „Arbeitsgruppe Normen und Standards“ des Vereins Schweizerische Archivare und Archivarinnen (VSA). Der gebürtige Tessiner hat Geschichte, Kulturwissenschaft und Kunstgeschichte in Basel studiert und 2007 abgeschlossen. 2008-2010 absolvierte er das Weiterbildungsprogramm in Archiv-, Bibliotheks- und Informationswissenschaften (MAS ALIS) in Bern und Lausanne und 2015 das CAS in Fundamental of Informatics an der Berner Fachhochschule.

Ohnesorge Krystyna 2020

Krystyna W. Ohnesorge

Krystyna Ohnesorge arbeitet seit 2004 als Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerischen Bundesarchivs, wo sie die Abteilung Informationsüberlieferung leitet. Zuvor war sie für das Management von Projektportfolios bei Schweizer Grossbanken verantwortlich. Sie studierte Informatik und Mathematik an der Technischen Universität Berlin und promovierte in Informatik an der Universität Zürich. Im VSA präsidiert sie die Arbeitsgruppe Records Management und Digitale Archivierung und leitet die Projektgruppe ENSEMEN mit. Ferner ist sie Stv.-Vorsitzende der europäischen Organisation DLM Forum. Sie war Mitglied des Executive Committees in EU-Projekten wie PLANETS, E-ARK, und CEF-Programmen E-ARK4All und E-ARK3. Sie leitet zudem das Modul für Digitalisierung und digitale Archivierung im Studiengang Master of Advanced Studies in Archival, Library and Information Science der Universitäten Bern und Lausanne.

Abstract

Genau wie das Archivgut sind auch die sie beschreibenden Informationen, die Metadaten, digital geworden. Dieser Wandel ist nicht nur technischer Natur, sondern hat auch eine allmähliche Veränderung der Archivierungspraxis mit sich gebracht. Der ISAD(G)-Standard ermöglichte die Beschreibung vom Archivmaterial mit Hilfe von Datenbanken. Er war teilweise noch mit den Methoden aus Papierkatalogen und der hierarchischen Beschreibung verknüpft. Der neue Standard Records in Contexts ermöglicht es, Archivmaterial unter besserer Berücksichtigung seines Kontexts zu beschreiben, indem er die Vernetzung der Inhalte, die Zusammenarbeit zwischen Institutionen und der Forschung fördert.

Così come i documenti di archivio anche le informazioni che li descrivono, i metadati, sono diventati digitali. Questo cambiamento non é solo di natura tecnica ma ha portato con sé un cambiamento graduale nelle pratiche archivistiche. La Norma ISAD(G) ha permesso didescrivere il materiale archivistico con l’uso di banche dati era in parte legata ai metodi di descrizione legati ai cataloghi cartacei e alla descrizione gerarchica. La nuova norma Records in Contexts permette di descrivere il materiale archivistico tenendo conto meglio del suo contesto favorendo la messa in rete dei contenuti, la collaborazione tra le istituzioni e la ricerca da parte degli utenti.

Comme les documents d'archives, les informations qui les décrivent, les métadonnées, sont également devenues numériques. Ce changement n'est pas seulement de nature technique, mais a entraîné un changement progressif des pratiques d'archivage. La norme ISAD(G) a permis de décrire le matériel d'archives à l'aide de bases de données en partie liées aux méthodes de description liées aux catalogues papier et à la description hiérarchique. La nouvelle norme Records in Contextes permet de décrire le matériel d'archives en tenant mieux compte de son contexte, en favorisant la mise en réseau des contenus, la collaboration entre institutions et la recherche des utilisateurs.