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Privatarchive – persönliche Gedanken zu aktuellen Herausforderungen

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Privatarchive – und damit sind hier von Privaten angelegte Archive gemeint, die der Öffentlichkeit mindestens grundsätzlich zugänglich sind – beschäftigen Thomas Schmid als Mitarbeiter der Burgerbibliothek Bern (BBB) beruflich schon länger. Mittlerweile widmet der Autor ihnen auch einen Teil seiner Freizeit. In seinem Beitrag schildert er uns, mit welchen Herausforderungen er sich als Archivar in diesem Zusammenhang konfrontiert sieht.

Ich engagiere mich ehrenamtlich im Dorfarchiv von Adelboden, wo ich aufgewachsen bin. Das als Stiftung organisierte Dorfarchiv ist selbstverständlich nicht als Konkurrenz zum Gemeindearchiv angelegt, sondern sammelt Unterlagen privater Herkunft und macht sie zugänglich.

Damit ist Adelboden gut bedient – das Lob sei mir erlaubt, da mein Engagement zu neu ist, als dass sich das Kompliment auf mich beziehen könnte. Und auch sonst ist die Schweizer «Privatarchiv-Landschaft» reichhaltig. Insbesondere grössere staatliche Archive und Bibliotheken akquirieren auch Privatarchive. Traditionsreiche Unternehmen betreiben eigene Archive, die «Archive der privaten Wirtschaft» haben sogar ihre eigene VSA-Arbeitsgruppe. Auch eine ganze Reihe von Spezialarchiven leistet mit oft stark limitierten Mitteln hervorragende Arbeit – um nur einige wenige zu nennen: die Archives contestataires in Carouge bei Genf, Mémoires d'Ici in Saint-Imier, das Schweizerische Wirtschaftsarchiv in Basel, das Archiv für Zeitgeschichte und das Schweizerische Sozialarchiv in Zürich, die Kulturarchive des Oberengadins in Samedan und des Unterengadins in Strada.

Der Wert von Privatarchiven wird oft als «Ergänzung» der staatlichen Überlieferung definiert, sie bieten aber ganz eigene Perspektiven: Sei es auf das lange Ringen eines Männern vorbehaltenen Vereins mit der «Frauenfrage» oder auf die Beherbergung von in die Schweiz geflohenen Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs (vgl. die Abbildungen).

Thomas Schmid

Schwieriger gestaltet sich die Situation meiner Erfahrung nach vor allem für die potentiell uferlose private Überlieferung von lokaler Bedeutung, die von kantonal oder national ausgerichteten Institutionen mengenmässig nicht bewältigt werden kann. Im Idealfall bietet zwar vielleicht die Gemeindeverwaltung Hand, Unterlagen privater Herkunft zusammen mit ihrem Verwaltungsarchiv aufzubewahren, oder ortgeschichtlich Interessierten gelingt eine wie auch immer geartete institutionelle Verstetigung ihrer ehrenamtlichen Archivarbeit. Selbst dann lässt jedoch die Sichtbarkeit dieser Privatarchive oft viel zu wünschen übrig. Inventare mögen zwar existieren, sind aber oft nicht online und mangels finanzieller Mittel und technischen Know-hows schon gar nicht mit einen Archivinformationssystem erstellt. Und wo keine ausreichende Sichtbarkeit besteht, dort gibt es leider kaum Benutzung.

1978 wurde im Zentralkomitee des Schweizer Alpen-Clubs die inzwischen berühmt-berüchtigte Pro und Kontra-Liste zum Thema «Frauen im SAC» erstellt, die auf Wortmeldungen in verschiedenen Sektionen des SAC beruht. Hier nur einige der Gegenargumente, die die Fusion mit dem Schweizerischen Frauen-Alpen-Club (SFAC) 1980 schliesslich nicht mehr verhindern konnten.

Pro und Kontra-Liste zum Thema «Frauen im SAC» 1978
Burgerbibliothek Bern, GA SAC 903

Hier eröffnet sich meines Erachtens ein Feld für kantonale oder sogar nationale Initiativen. So wie sich bei der digitalen Langzeitarchivierung allgemein der Gedanke der kooperativen Nutzung von Infrastruktur immer mehr durchsetzt, bräuchte es eine zentrale AIS-Infrastruktur nach dem Vorbild der von der Association vaudoise des archivistes betriebenen Plattform https://vaud.archivescommunales.ch/, die – möglichst kostengünstig – auch all jenen Interessengruppen, Vereinen und Stiftungen offen stünde, die sich lokal um Privatarchive kümmern. Besonders wichtig wäre hier die Möglichkeit zur Präsentation von Digitalisaten bzw. digital entstandenen Unterlagen – man vergleiche dazu nur den Erfolg der Plattformen https://notrehistoire.ch/ oder https://www.topothek.at/ (die am Ende natürlich nicht archivisch ausgerichtet sind).

Eine zweite Herausforderung ist die Diversifizierung der zugänglichen Privatarchive. Zwar ist bei den diskriminierten Teilen der Dominanzgesellschaft das Problem lange erkannt und wird etwa für die Überlieferung von Frauen schon länger gezielt angegangen. In diesem Zusammenhang kann beispielsweise auf das Gosteli-Archiv in Worblaufen bei Bern, auf das Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz in Sankt Gallen und auf das Frauenkulturarchiv Graubünden in Chur verwiesen werden. Aber ausserhalb von Institutionen mit entsprechend fokussierter Sammlungspolitik dürften Privatarchivbestände von Frauen immer noch massiv in der Minderheit sein.

Der britisch-indische Gefreite Harbakhash Singh, geboren 1920, geriet 1941 bei Tobruk in deutsche Gefangenschaft, 1943 gelang ihm die Flucht in die Schweiz (vgl. Radio SRF, «Zeitblende» vom 29.01.2022: «Wie ein indischer Soldat im Zweiten Weltkrieg nach Adelboden kam», (Zugriff am 03.09.2022). Sein Porträt hat sich im Dorfarchiv Adelboden in Unterlagen zu den Anfängen des Skilifts Kuonisbergli (Chuenisbärgli) erhalten:

Harbakhash Singh
Porträt von Harbakhash Singh, Dorfarchiv Adelboden

Noch kaum angefangen ist aber vielerorts die Arbeit zugunsten derjenigen Privatarchive, die als «postmigrantisch» bezeichnet werden können. In den etablierten Archiven noch relativ überwindbar sind hier vielleicht Probleme wie fehlende Sprachkompetenzen. Massive Hürden sind hingegen die mangelhafte Vernetzung mit den relevanten Bevölkerungsgruppen und deren nachvollziehbares, latentes Misstrauen gegenüber Institutionen der Dominanzgesellschaft. Dass solche Gruppen es vorziehen können, ihre Archive selbst zu verwalten, würde die oben angedachte zentrale Infrastruktur nur noch wertvoller machen. In jedem Fall steht hier noch eine Menge Arbeit beim Aufbau von Kontakten und Vertrauen an, der wir uns unbedingt stellen sollten.

Über weitere Herausforderungen, etwa die Digitalisierung der Gesellschaft, die das Verlustrisiko bei Privatarchiven noch deutlich stärker erhöht als bei Verwaltungsarchiven, liesse sich noch lange diskutieren – vielleicht über einem passenden Getränk an der Jubiläums-Jahresversammlung des VSA?

Schmid Thomas

Thomas Schmid

Thomas Schmid studierte Geschichte und Latein an der Universität Bern und ist Absolvent des MAS ALIS. Von 2006 bis 2009 arbeitete er als Archivar im historischen Archiv der Schweizerischen Post. Seit 2008 ist er in der Burgerbibliothek Bern tätig, seit 2019 als Bereichsleiter Privatarchive.

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Privatarchive sind essentiell für die möglichst vollständige Dokumentation einer Gesellschaft. Insbesondere auf der lokalen Ebene steht es um ihre Überlieferung und Sichtbarkeit sehr unterschiedlich. Hier wäre eine kostengünstige zentrale AIS-Infrastruktur für die diversen Akteur:innen sehr hilfreich. Eine andauernde Herausforderung ist ausserdem die Diversifizierung der Bestände hin zu einer besseren Repräsentation der ganzen Gesellschaft, gerade auch ihrer «postmigrantischen» Teile.

Les archives privées sont essentielles pour la documentation la plus complète possible d'une société. Au niveau local en particulier, leur transmission et leur visibilité sont très variables. Une infrastructure SIA centrale peu coûteuse serait ici très utile pour les différents acteurs. La diversification des collections en vue d'une meilleure représentation de l'ensemble de la société, et notamment de ses composantes "post-migrantes", constitue un défi permanent.