Schweizer Archive dekolonisieren?
Die Diskussion um die Dekolonisierung von Gedächtnisinstitutionen hat mittlerweile auch die Schweizer Archivlandschaft erreicht. Auf welche Weise kann aber eine Dekolonisierung von Archiven erreicht werden? Dieser Artikel fasst eine Masterarbeit des MAS ALIS Studienganges 2020-2022 zu dieser Thematik kurz zusammen.
Selbst wenn Archive sich traditionell als neutrale Institutionen verstehen, ist es entscheidend, sie auch als politische Räume anzuerkennen.1 Deshalb sollten sie als Wissensort eine führende Rolle, insbesondere bei der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit, einnehmen. Die gegenwärtige passive Haltung vieler Archive darf nicht als Neutralität interpretiert werden, sondern vielmehr als fortgesetzte Unterstützung unterdrückender und diskriminierender Strukturen.
Ausgangslage
Seit einigen Jahren werden in vielen Ländern Wege zu einer dekolonialen archivarischen Praxis diskutiert, vor allem von der indigenen Bevölkerung Nordamerikas.2 Die Ausgangslage der Archive in Kanada und den USA lässt sich jedoch nicht direkt mit jener in der Schweiz vergleichen, da die koloniale Vergangenheit eine andere ist. Die Schweiz besass zwar keine Kolonien, aber Schweizer Bürger:innen waren direkt und indirekt an der Ausbreitung kolonialer Netzwerke beteiligt und profitierten davon.3 Diese kolonialen Verstrickungen der Schweiz spiegeln sich auch in den Schweizer Archiven wider. In ihnen können verschiedenste Quellen mit kolonialem Bezug gefunden werden. Doch es geht nicht nur um die Quellen und Bestände aus kolonialen Kontexten, sondern auch um die Institutionen, die an sich in ihren Grundzügen kolonial geprägt sind. Der Begriff «Kolonialismus» umfasst daher nicht nur die tatsächliche Herrschaftspraxis, sondern auch Ideologien, Diskurse, Wissenssysteme, Ästhetiken und Perspektiven, die der kolonialen Herrschaft vorausgingen, sie stützten und über sie hinauswirkten. Archivische Dekolonisierung erfordert daher die Anerkennung der Nachwirkungen des Kolonialismus.4
Westliche Archivtheorie und Archivpraxis
Die westliche Archivtheorie und -praxis wurde innerhalb eines kolonial-imperialistischen Kontextes geprägt und bleibt bis heute von westlichen Konzepten und Theoretiker:innen dominiert.5 Die frühen Archive in Europa dienten sowohl der Stärkung nationaler Identitäten als auch der Schaffung einer klaren Unterscheidung zwischen «uns» und «den Anderen»6 Die Kontrolle über «die Anderen» wurde durch Überwachung und das systematische Sammeln von Informationen über die Kolonisierten erreicht. Edward Said und Michel Foucault argumentierten sogar, dass die Kolonialmächte ihre Herrschaft nur aufrechterhalten konnten, weil sie die Kontrolle darüber hatten, was dokumentiert wurde.7
Archive entschieden auch darüber, ob die Stimmen der Kolonisierten Eingang in die Sammlung fanden oder nicht. Das Schweigen der Kolonisierten manifestiert sich in der geringen Anzahl an Quellen über sie selbst. Archive trugen somit zur Produktion von Wissen als auch Nicht-Wissen über die koloniale Bevölkerung bei, was für diese den Verlust ihrer eigenen Geschichte bedeutete. Es ist also nicht überraschend, dass postkoloniale Historiker:innen wie Ann Laura Stoler oder Ranajit Guha fordern, archivalische Quellen entlang der Spuren8 und gegen den Strich9 zu lesen, um eine Geschichte der Kolonisierten überhaupt (re-)konstruieren zu können.
Kritische Archivwissenschaft und dekoloniale Archivpraxis
Kritische Archivwissenschaft und dekoloniale Archivpraxis haben in den letzten
Jahren die Dominanz westlicher Konzepte in Frage gestellt und auf die Existenz von strukturellem Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung in Archiven hingewiesen.10 In der Schweiz gibt es erste Ansätze einer dekolonialen Archivpraxis aus aktivistischen Kreisen. Ein Beispiel ist die Webseite «Schwarze Schweiz Online Archiv» (SSOA). Das SSOA erfasst seit 2020 Beiträge von Schwarzen Menschen in den Bereichen Politik, Kultur, Literatur und Kunst und dokumentiert die Schwarze Geschichte in der Schweiz, um sie auch in Zukunft zugänglich zu machen und für kommende Generationen zu bewahren.11 Das Projekt «Living Archive» des Kollektivs «Living Room» in Bern verfolgt wiederum das Ziel, ein intersektionales, dekoloniales und machtkritisches Archiv in verschiedenen Sprachen aufzubauen.12 Beide Beispiele zeigen, dass in aktivistischen Kreisen von Black, Indigenous and People of Color (BiPoC) und von Personen mit Migrationshintergrund eine Erwartungshaltung vorhanden ist, dass die aktuelle Archivpraxis transformiert und inklusiver gestaltet werden soll.
Die aktuelle Problematik der Schweizer Archivlandschaft zeigt, dass es verschiedene Handlungsbereiche gibt, in denen Schweizer Archive dekoloniale Massnahmen umsetzen könnten. Folgende Bereiche wurden in der Masterarbeit vorgeschlagen und werden hier kurz zusammengefasst:
Provenienzforschung und Restitution: Es ist wichtig, die Herkunft und Geschichte der Archivalien zu untersuchen und gegebenenfalls Objekte mit problematischer Provenienz zurückzugeben. Eine Zusammenarbeit mit Herkunftsgesellschaften kann zu einem neuen Verständnis der Sammlungen führen.
Erschliessungspraxis: Die Terminologie in Archivkatalogen sollte überprüft und überarbeitet werden, um diskriminierende Sprache zu vermeiden und eine dekoloniale Sichtweise zu fördern. Dennoch sollte die Nachvollziehbarkeit im Vordergrund stehen, um Forschung – insbesondere dekoloniale Forschung – gewährleisten zu können.
Öffentlichkeitsarbeit und Vermittlung: Archive müssen die Öffentlichkeit über koloniale Strukturen informieren und durch Ausstellungen, Workshops und andere Veranstaltungen sensibilisieren.
Möglichkeiten der Digitalisierung: Die Digitalisierung bietet neue Chancen, Archive zugänglicher zu machen, birgt aber auch Risiken der Reproduktion kolonialer Narrative. Es ist wichtig, den Zugang zu digitalen Beständen zu kontrollieren und sicherzustellen, dass unterschiedliche Perspektiven repräsentiert werden.
Archivpolitik und Ausbildung: Die Archivpraxis muss diverser werden, um blinde Flecken aufzudecken und marginalisierten Stimmen mehr Raum zu geben. Diversity Management und Anti-Rassismus-Workshops können beispielsweise dazu beitragen, eine inklusivere Archivlandschaft zu schaffen.
Diese Massnahmen zielen darauf ab, koloniale Strukturen zu erkennen, zu hinterfragen und zu überwinden, um eine vielfältigere und inklusivere Archivlandschaft zu ermöglichen.
- 1 Friedrich Markus, Zedelmaier Helmut: «Bibliothek und Archiv», In: Sommer, Marianne u.a. (ed.): Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart: J.B. Metzler, 2017.
- 2 Zum Beispiel: Genovese Taylor R.: «Decolonizing Archival Methodology: Combating Hegemony and Moving Towards a Collaborative Archival Environment», AlterNative, 12/Nummer 1, 2016, S. 32-42.
- 3 Vgl. Purtschert Patricia, Lüthi Barbara, Falk Francesca (ed.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld: transcript Verlag, 2012; vgl. Purtschert Patricia, Fischer-Tiné Harald (ed.): Colonial Switzerland. Rethink Colonialism from the Margins, New York: Springer, 2015.
- 4 Vgl. Gouaffo Albert: «Dekolonisierung», In: Göttsche Dirk et al. (ed.) Handbuch Postkolonialismus und Literatur, Stuttgart: Springer, 2017, S. 131-133; Bak Greg: «Counterweight: Helen Samuels, Archival Decolonization, and Social License», The American Archivist, 84/ Nummer 2, 2021, S. 420-444, S. 424.
- 5 Ghaddar Jamila J., Caswell Michelle: «To Go Beyond: Towards a Decolonial Archival Praxis», Archival Science, Nummer 19, 2019, S. 71-85, S. 75f.
- 6 «Othering» bedeutet, dass eine Gruppe oder eine Person sich von einer anderen Gruppe abgegrenzt, in dem sie „die Anderen“ als andersartig und fremd beschreiben. In der Regel beinhaltet es ein Machtgefälle, in welchem «die Anderen» von Diskriminierung betroffen sind. Der Begriff «Othering» wurde insbesondere durch die postkolonialen Schriften von Edward Said geprägt.
- 7 Vgl. Said Edward: Orientalism, London: Pantheon Books, 1978; vgl. Foucault Michel: L’Archéologie du savoir, Paris: Gallimard, 1971.
- 8 Stoler Ann Laura: «Colonial Archives and the Arts of Governance», Arch Sci, Nummer 2, S. 87-109, S. 99.
- 9 Vgl. Guha Ranajit: A Subaltern Studies Reader 1986-1995, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1997.
- 10 Vgl. Bak Greg: «Counterweight: Helen Samuels, Archival Decolonization, and Social License», The American Archivist, 84/ Nummer 2, 2021, S. 420-444, S. 435.
- 11 Vgl. «Schwarze Schweiz Online Archiv» [online], 2023, <https://www.schwarzeschweiz.com/> (zuletzt: 08.04.2024).
- 12 Vgl. «Living Archiv Bern», [online], 2024: <https://www.living-room.website/> (zuletzt: 08.04.2024).
Abstract
- Deutsch
- Français
Die Dekolonisierungsdebatte hat inzwischen auch die Schweizer Archivlandschaft erreicht. Auch die Archive tragen eine wichtige Verantwortung im Umgang mit der kolonialen Vergangenheit. Obwohl die Schweiz nie Kolonien besass, war sie trotzdem in das weltweite koloniale Netzwerk eingebunden und profitierte davon. Die anhaltende Untätigkeit vieler Archive fördert ungleiche, rassistische Strukturen. Eine dekoloniale Archivpolitik kann hingegen eine vielfältigere und inklusivere Archivlandschaft schaffen.
Le débat sur la décolonisation a désormais atteint les archives suisses. Les services d'archives ont aussi une responsabilité importante dans le traitement du passé colonial. Bien que la Suisse n'ait jamais possédé de colonies, elle a néanmoins été intégrée dans le réseau colonial mondial dont elle a profité. L'inaction persistante de nombreux services d'archives favorise les structures inégalitaires et racistes. Une politique archivistique décoloniale peut en revanche créer un monde archivistique plus diversifié et plus inclusif.