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2024/3 Zugang zu Archiven - Recht oder Pflicht?

Das Erinnern nicht vergessen. Der Datenschutz als Herausforderung für die Archive der Schweiz

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Staatliche Archive stehen vor einer grossen Herausforderung. Als Grundpfeiler unserer Demokratie haben sie die Pflicht, der Gesellschaft Erinnerung zu ermöglichen. Präziser müsste man sagen: Ihr die quellenbasierte Rekonstruktion der Vergangenheit zu ermöglichen, z.B. vergangenen staatlichen Handelns. Erinnerung und geschichtswissenschaftliche Arbeit sind ja nicht identisch. Darum sind die heutigen Archive offen, im Gegensatz zum Ancien Régime. Damals führten die Herren auch Archive, aber die Truhen mit den Urkunden waren gut verschlossen. Offene Archive sind Kennzeichen einer Demokratie.

Dieser Auftrag kollidiert mit einem radikalisierten Datenschutz, der die Privatsphäre der Individuen ins Zentrum stellt. Er will sie vor den Zugriffen der Macht schützen – und des Internets, «weil das Netz nichts vergisst». Weil mit der Digitalisierung Daten ungehindert zirkulieren, kann jede und jeder an alle möglichen vertraulichen Informationen kommen. Daher sei der Datenschutz zu verschärfen. Das Individuum solle selbst über seine Daten bestimmen, d.h. diese löschen können. Einzuführen sei das «Recht auf informationelle Selbstbestimmung», damit die Bürger:innen nicht immer «durchsichtiger» würden. Kurzum: Diese hätten ein «Recht auf Vergessen», das über der «Pflicht zur Erinnerung» der Archive stehe.

Die Sichtweise der Archivar:innen

Was sagen die von mir befragten Archivar:innen dazu? Der Tenor lautet, das «Recht auf Vergessen» spiele in ihrer konkreten Arbeit keine Rolle, aber die «Erinnerungspflicht» der Archive werde durch den Datenschutz bzw. eine datenschützerische Grundstimmung tendenziell geschwächt. Das ist ein Widerspruch. Zu erklären ist er vielleicht damit, dass Archivar:innen beschäftigt sind mit dem Sichern von riesigen Massen von Unterlagen. In ihrem Alltag steht das «Erinnern» über dem «Vergessen» – auch wenn noch viel grössere Massen an Unterlagen kassiert werden.

In manchen Gesprächen aber zeigte sich, dass das «Recht auf Vergessen» sehr wohl an die Pforten des Archivs klopft. Ein Archivar berichtete, dass Personen sich meldeten, die Bankrott gemacht hätten und nun den betreffenden Eintrag gelöscht haben wollten. Oder: Ethikkommissionen würden Archiven verbieten, Forschenden gewisse Quellen auszuhändigen. Oder – auf Gemeindeebene - Institutionen hätten aus Datenschutzgründen Unterlagen vernichtet, die man im Interesse von einbürgerungswilligen Ausländer:innen hätte aufbewahren müssen.

Was mir aufgefallen ist: Manche Archivar:innen äusserten ein diffuses Unbehagen über den Datenschutz und betonten zugleich, dass sie sich in ihrer Arbeit an die Archivgesetze hielten – was so viel bedeutet wie (in meiner Interpretation): Wir können nicht anders. Klar, sie können nicht anders, Bestimmung ist Bestimmung, das leuchtet ein, aber sie könnten ja zum Beispiel Kritik üben an rigiden Vorgaben? «Wir können nicht anders» klingt so alternativlos.

Auffallend ist auch: Die Archivar:innen heben die grossen Herausforderungen hervor, die sie zu bewältigen hätten: Sie müssten die analoge Papierwelt sichern, dazu auch noch das gegenwärtig Digitale, das natürlich ein anderes Format aufweist, und erst noch das zukünftig Digitale, das nochmals ein anderes Format haben werde. Von dieser für die Demokratie wichtigen dreigleisigen Aufgabe wisse die Politik zu wenig. Das heisst, sie honoriere die grundlegende Arbeit der Archive für das Staatswesen und die Demokratie zu wenig.

Und dann, seufzten einige Archivar:innen, seien da noch die Historiker:innen. Diese wollten einfach nicht wahrhaben, dass die Archive ihnen von Gesetzes wegen zum Beispiel «besonders schützenswerte Personendaten» nicht einfach aushändigen dürften. Den Historiker:innen fehle oft das Verständnis für das Funktionieren des Archivs, für rechtliche Bedingungen, insbesondere den Datenschutz, und für die Komplexität der Digitalisierung, von der sie letztlich profitierten, wenn sie Akten direkt online einsehen könnten.

Die Sichtweise der Historiker:innen

Und was sagen die Historiker:innen? Sie sind nicht zufrieden. Sie fühlen sich in ihrer Arbeit im Archiv zunehmend eingeschränkt und bemängeln, verschiedentlich hätten Verwaltungen und Archive die Schutzfristen erhöht und die erkämpften Archivgesetze würden in der Praxis unterlaufen. Statt dass sie, die Historiker:innen, die benötigen Akten konsultieren könnten, würden die Archive sie auf den «Persönlichkeitsschutz der Betroffenen» verweisen und die Unterlagen nicht freigeben. Manche kleinen Archive, heisst es auch, seien übervorsichtig und würden aus einer diffusen Angst heraus, den Datenschutz zu verletzen, Unterlagen erst einmal präventiv verschliessen. Omnipräsent sind die «personenbezogenen Daten»: Historiker:innen betonen, es gehe ihnen nie um Individuen, sondern um allgemeine Entwicklungen.

Manche Historiker:innen wünschen sich explizit ein «Forschungsprivileg» für Sozialwissenschaftler:innen, das einige Kantone kennen. Das bedeutet, dass Forschende Einsicht in Unterlagen erhalten, die Nicht-Forschenden verwehrt bleiben, also z.B. auch Journalist:innen.

Ein Sonderfall ist das AFZFG, das 2017 in Kraft getretene Bundesgesetz zur Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Das AFZFG hat vielen Historiker:innen Zugang zu Akten verschafft, die unter Schutzfrist oder unter dem Arztgeheimnis stehen. Der Haken am AFZFG: Die Öffnung der Archive erfolgt nur temporär, die Ergebnisse können also nicht von Fachkolleg:innen überprüft, was theoretisch der Fall sein sollte im Feld der Wissenschaft.

Fazit

Mein Fazit lautet: Wir stehen nicht vor einer Rechtsrevolution, dass etwa neue Datenschutzgesetze demnächst die Archivgesetze aushebeln oder ersetzen würden. Dieses Bild wäre schief – ebenso schief wie jenes, dass der Staat den Bürger totalitär durchleuchten will und alle seine Daten sammelt. Der radikalisierte und popularisierte Datenschutz bringt hier zwei Akteure durcheinander: die Techgiganten und die staatlichen Behörden. Er überträgt das berechtigte Unbehagen gegenüber dem Gebaren von Google und Co. auf Spitäler und Steuerämter. Sowieso ist zu sagen: Der Staat in der Schweiz, das sind wir alle bzw. alle Bürger:innen. Der Datenschutz bzw. das, was ein Teil unter Öffentlichkeit und Datenschutz versteht, kultiviert ein absolutistisches Staatsverständnis.

Ich glaube, die Techgiganten haben mit dem Internet einen Kulturwandel in Gang gesetzt. Der Datenschutz verschärft ihn. Rein juristisch lässt er sich nicht fassen, und er erstreckt sich nicht nur auf die Archive, dort aber könnte er grosse Auswirkungen haben, wenn man davon ausgeht, dass Geschichte wichtig ist für die Gesellschaft.

Die Frage ist nun: Welche Rolle wollen die Archive spielen? Welches Selbstverständnis haben Archivar:innen oder wollen sie haben? Die öffentlichen Archive sind eingebunden in den Staatsapparat. Sie werden von der öffentlichen Hand dafür alimentiert, dass sie die Grundlagen schaffen, dass Bürger:innen dem Staat und der Verwaltung auf die Finger schauen können. Das ist ihre rechtlich abgesicherte Rolle.

Als Teil der Verwaltung bestimmen sie zusammen mit der Verwaltung, welche Unterlagen vernichtet und welche gesichert werden und unter Schutzfrist stehen. Nicht alle Archive besitzen die sogenannte Aktenherrschaft. Auf Bundesebene etwa bleibt die Verwaltung im Besitz der von ihr produzierten Akten. Die Departemente entscheiden – selbstverständlich nach geltendem Recht –, welche ihrer noch unter Schutzfrist stehenden Unterlagen sie zur Einsicht freigeben und welche nicht. Das Bundesarchiv ist quasi der neutrale Intermediator zwischen Bürger:innen und Verwaltung. Er weist die involvierten Akteure auf das geltende Gesetz hin. So hat selbstverständlich jeder Bürger die Möglichkeit, den Rechtsweg zu beschreiten und einen Prozess anzustrengen, wenn er nicht einverstanden ist mit dem Entscheid der Verwaltung – und den Aufwand nicht scheut.

Für einen Aussenstehenden mutet dieses Setting seltsam an. Diejenige Institution – das Archiv –, welche die Grundlagen besitzt und schafft, dass die Gesellschaft, die Bürger:innen und die Forschung ihre Interessen gegenüber «dem Staat» einbringen können, diese Institution ist in diesen Apparat eingebunden. Das Archiv scheint mit seiner Position und Organisation den Behörden, der Macht, näher zu stehen als der Gesellschaft.

Was bedeutet dies für die Archivar:innen? Müssten sie ihre Position klären? Oder sind diese Fragen zu weit weg vom Alltag, der mit der sich beschleunigenden Dynamik von Digitalisierung und Datenschutz immer grössere Herausforderungen bereithält?

Mir ist aufgefallen: Manche Archivare nennen sich nicht mehr so oder lehnen die Berufsbezeichnung sogar ab. Sie kommt ihnen altmodisch vor, nicht mehr zeitgemäss, ja fast peinlich. Sie haben den Eindruck, sie passe nicht mehr zu dem, was sie tun. «Archivar» evoziert Papier und Geschichte, nicht Bytes und Regelwerke.

Dies ist ein Anzeichen dafür, dass der Beruf stark im Wandel ist, aber auch Ausdruck einer Unsicherheit, in welche Richtung er sich entwickeln wird und was mit seinem Erbe anzustellen ist. In Nordeuropa schmiedet man angeblich Pläne, die Papierbestände nach ihrer Digitalisierung zu verbrennen – aus Platzgründen. Für jede Historikerin ist dies Sakrileg und Alptraum zugleich.

Die Archive müssen sich rüsten für die digitale Zukunft. Selbstbewusst aber können sie auch sagen: Ohne uns gibt es keine methodische Erinnerung und damit keine Geschichte, und ohne Geschichte gibt es keine Demokratie. Schwarz-weiss gemalt: Sind sie Agent:innen der Verwaltung oder Akteure der Zivilgesellschaft?

Wenn die Archive ihr Selbstverständnis geklärt hätten, dann könnten sie der Politik in einer Aufklärungsoffensive darzulegen versuchen, wie wichtig ihre Arbeit für den Staat und die Demokratie ist. Denn in der Tat: Wenn die Unterlagen des Staats plötzlich nur noch digital vorliegen, muss sich jemand darum kümmern können.

Die heilige Dreifaltigkeit

Zum Schluss möchte ich drei Bemerkungen zu den drei heiligen «D» machen. Sie sind meiner Meinung nach Schlüsselbegriffe im archivarischen Diskurs: Digitalisierung, Datenschutz und Demokratie. Alle drei Begriffe haben sich verselbstständigt: Wer sie in die Runde wirft, scheint Recht zu haben, weitere Diskussionen scheinen sich zu erübrigen. Die Digitalisierung bringt mehr Transparenz, der Datenschutz schützt unsere Privatsphäre und ist rechtskonform, und die Demokratie ist gut.

Natürlich ist die Digitalisierung daran, die Realität der Archive und auch des Forschens umzukrempeln und vieles zu vereinfachen. Sie verspricht jedoch zu viel – in merkwürdigem Gegensatz zum Datenschutz: Alles soll für alle offen und einsehbar werden. Zwangsläufig zieht die Digitalisierung Einschwärzungen nach sich. Sie ist nur ein Instrument, ein Hilfsmittel. Einige Historiker:innen haben dennoch schon wieder die neue Disziplin «Digital history» gegründet, die wieder einmal verspricht, die Avantgarde schlechthin zu sein. Aber gibt es denn eine «analoge Geschichte»? Nein. Darum ergibt die Rede von der «digitalen Geschichte» wenig Sinn. Mir ist kein Beispiel einer digitalen Geschichtsschreibung bekannt, die etwas grundlegend Neues gebracht hätte. Die Datengrundlage zu erhöhen, reicht nicht aus.

Zum Datenschutz müssten wir mehr wissen. Es fehlt eine Geschichte seiner erstaunlichen Karriere. Er müsste im Archiv erforscht werden – auf der Grundlage «geschützter» Unterlagen. Einer meiner Interviewten hat es angemerkt: Die Vorstellung, dass ein Mensch Daten besitzt, die man verletzen kann, und dass davon auch noch seine Nachkommen tangiert sein sollen, ist nicht nur neu, sondern auch seltsam. Hier mischen sich Vorstellungen von Besitzindividualismus und Genetik mit einem ausgeklügelten Recht. Der Laie hat den Durchblick schon längst verloren.

Schliesslich die Demokratie: Wir lieben sie. Dabei geht vergessen, dass auch die Demokratie eine Herrschaftsform ist. Der Staat etwa besitzt das Datenmonopol, er bestimmt darüber, welche Daten aufbewahrt und vernichtet werden. Dies geschieht sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dass diese Vorgänge rechtsstaatlich geregelt sind, heisst nicht, dass sie kein Machtgefälle besiegeln. Was will ich damit sagen? Ohne Archive keine Geschichte und Demokratie, ja, aber diese Rede darf uns nicht davon abhalten, genau hinzuschauen, was mit den Archiven passiert.

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Urs Hafner

Dr. Urs Hafner ist freischaffender Historiker und Journalist in Bern, Teilzeit arbeitet er im Schweizerischen Bundesarchiv. Letzte Buchveröffentlichung: «Karl Bürkli. Der Sozialist vom Paradeplatz», Zürich 2023 (Verlag Echtzeit).

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Der Artikel ist eine gekürzte Fassung des Referats, das der Autor an der VSA-Fachtagung 2024 gehalten hat und fasst die Ergebnisse des Berichts «Das Erinnern nicht vergessen. Der Datenschutz als Herausforderung für die Archive der Schweiz» zusammen. Die unterschiedlichen Sichtweisen der Archivar:innen und der Historiker:innen zum Thema werden aufgezeigt. Den Abschluss bilden Bemerkungen zu den heiligen drei «D»: Digitalisierung, Datenschutz und Demokratie.

L'article est une version abrégée de l'exposé que l'auteur a présenté lors de la journée professionelle 2024 de l'AAS et résume les résultats du rapport «Ne pas oublier de se souvenir. La protection des données comme défi pour les archives de la Suisse. Un état des lieux». Les différents points de vue des archivistes et des historiens sur le sujet sont mis en évidence. Le rapport se termine par des remarques sur les trois «D» sacrés : Digitalisierung (numérisation), Datenschutz (protection des données) et Demokratie (démocratie).