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2009/4 Bewertung als Kernaufgabe der I&D-Welt

Archivische Bewertung: Aspekte, Probleme, Konjunkturen

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Bewertung stellt die Archive vor die Aufgabe, «einen Informationsverlust zu organisieren und diesen optimal zu steuern» (Brachmann B., «Die Auswirkungen der modernen Informationsüberlieferung auf die Wechselbeziehungen zwischen Geschichtsbild und Informationsbasis», Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 1969, Nr. 17, S. 63). Dieser Satz des ostdeutschen Archivars Botho Brachmann aus dem Jahre 1969 ist zwar schon etwas älter, aber immer noch stimmig. Ergänzen könnte man, dass die Aufgabe ausserdem auch darin besteht, den Informationsverlust zu verantworten. Dieser Aspekt trägt wohl das meiste zu dem unbestimmten Unbehagen bei, das bei der Bewertung häufig mit im Spiel ist.

Gesellschaftliches Umfeld

Die Bewertung sollte also «optimal» erfolgen. Was das bedeuten könnte, darüber können wir nun heute diskutieren.

Ich nehme einmal an, es geht in erster Linie darum, dass die Organisation des Informationsverlusts den ArchivarInnen vorbehalten sein soll. Ein berufsständischer Ansatz also: Es sollten nicht Politiker, Geheimdienste, Betriebsökonomen, Datenschützer oder sonst wie artfremde Rollenträger sein, die Aktenvernichtungen anordnen, sondern Archivare.

Aber im Ernst: Worum geht es bei der Bewertung? – Es geht doch, etwas einfach und naiv gesagt, in erster Linie darum, das Richtige und Wichtige zu archivieren und den Rest dem Vergessen anheimfallen zu lassen: Der Archivar, die Archivarin als «Oblivionisten», die in der Gegenwart mit darüber entscheiden, woran man sich in der Zukunft erinnern und was man vergessen haben wird. 

Aber damit wir uns dieser Aufgabe stellen können, müssen wir zuerst dafür sorgen, dass uns das Richtige und Wichtige nicht entzogen wird. Die Archivgesetze und die darin verankerte Anbietepflicht der öffentlichen Stellen sind da sicher ein wertvolles Instrument, aber sie sind keine Selbstläufer. Tatsächlich sind in verschiedenen Bereichen Bestrebungen festzustellen, die Geltung der Archivgesetze durch Spezialerlasse einzuschränken. Häufig sind diese durch Datenschutzüberlegungen motiviert und beziehen sich auf Personendaten. Aber nicht nur gegensätzliche Einstellungen – nach dem Motto «Nur eine vernichtete Akte ist eine gute Akte» – stehen unseren Zielen im Wege, sondern häufig auch Unkenntnis oder Nonchalance. Dies gilt insbesondere für den Bereich der von den öffentlichen Archiven «freiwillig» übernommenen Sicherung einer Zusatzüberlieferung. Hier, bei den potenziellen Bildnern von Privatarchiven also, ist stets ein wachsames Auge der ArchivarInnen erforderlich. Als Archivar ist man eigentlich immer im Dienst.

Praxis und Theorie ...

Im Französischen gibt es zwei Ausdrücke für Bewertung: «évaluation» und «tri».

«Évaluation» bezeichnet die eher intellektuelle, «tri» die eher handfeste Seite des Metiers. Zwischen den beiden Seiten gibt es zum Teil beträchtliche Divergenzen, die man etwas zugespitzt wie folgt charakterisieren könnte:

Die eine Seite will einfache und leicht vermittelbare Entscheidungsgrundlagen für die Praxis. Nach dem Motto «Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode» wendet sie ein einmal gefundenes Schema ohne weiteres Überlegen auf alle möglichen ins Haus stehenden Unterlagen an. Die andere Seite kümmert sich dagegen um eine Vielzahl möglicher Aspekte, lässt die Bewertungsdiskussion Revue passieren und sucht die hypothetischen künftigen Fragestellungen zu antizipieren. Falls sie zu einem Entscheid gelangt, der im Übrigen ruhig falsch sein darf, wendet sie ihren Intellekt in erster Linie für die Formulierung einer eingehenden Begründung auf.

... respektive Schweiz und Deutschland

Man könnte nun eine Frage stellen, die, gerade in der aktuellen Situation, möglicherweise nicht ganz politisch korrekt ist, nämlich: Inwieweit entspricht der skizzierte Gegensatz zwischen Theorie und Praxis dem Gegensatz zwischen deutscher und (deutsch)schweizerischer Archivszene?

Lange Jahre schien das Klischee, dass «der Deutsche» theorie- und diskussionsfreudig sei, während «der Schweizer», wenn überhaupt, eher praktisch denke, auch auf dem Gebiet der Bewertung zuzutreffen. Jedenfalls hat die Bewertungsdiskussion in Deutschland eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. In der Schweiz entstand dagegen erst 1980 im Schosse des Berufsverbands die Koordinationskommission, welche in erster Linie die Aufgabenteilung zwischen Bundesarchiv und Staatsarchiven untersuchen und die entstehenden Doppelüberlieferungen einschränken sollte. Wenn man die im Laufe der Zeit geschaffenen Archivierungsempfehlungen anschaut, fällt einem auf, dass diese sehr praxisbezogen sind, das heisst, sie waren in erster Linie auf eine Reduktion der Papiermenge ausgerichtet. Theoretische Highlights finden sich nicht darunter.

In neuerer Zeit hat sich nun allerdings der behauptete Gegensatz abgeschwächt. Erstens hat in den letzten 10 bis 15 Jahren in der Schweiz eine Intensivierung und Internationalisierung des Diskurses stattgefunden. Ich nenne nur zwei Beispiele (es gäbe noch mehr): 

1) Im Herbst 2001 widmete die Schweizerische Zeitschrift für Geschichte ein ganzes Heft dem Thema «Überlieferungsbildung und Bewertung»1. Darin wurde, neben einem deutschen und einem französischen, auch ein umfangreicher amerikanischer Bei- trag (zur Rehabilitation der «role of content in the archival context») gebracht. Neben Grundsatzfragen wurden auch spezielle Archivbildner (Bankarchive) oder Medien (audiovisuelle Unterlagen) behandelt.

2) Josef Zwicker, früherer Staatsarchivar von Basel-Stadt, hat im November 2004 an einem Workshop zur Bewertung an der Archivschule Marburg teilgenommen und seinen sehr lesenswerten Beitrag im folgenden Jahr publiziertZwicker J., Zum Stand der Bewertungsdiskussion in der Schweiz nebst Bemerkungen zu den Aussengrenzen der Überlieferungsbildung. In: Bischoff F. M., Kretzschmar R. (Hg.), Neue Perspektiven archivischer Bewertung: Beiträge zu einem Workshop an der Archivschule Marburg, Marburg, 2005, S. 101–118.. Obwohl Zwicker das Niveau unserer Bewertungsdiskussion als «nicht so hoch, wie es sein sollte oder sein könnte» einstuft, sieht er Chancen zur Verbesserung und nennt dabei folgende Punkte:

  • Vermittlung durch Vielsprachigkeit (Rezeption der französischen, frankokanadischen und angelsächsischen Archivistik),

  • verbesserte Ausbildung (Hochschulkurs, Zertifikat),

  • KOSTKoordinationsstelle für die dauerhafte Archivierung elektronischer Unterlagen (KOST), entstanden 2004 durch eine Verwaltungsvereinbarung über die Zusammenarbeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft mit den Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein.und Arbeitsgruppe Bewertung (grösseres Know-how und Beschäftigung mit Grundsatzfragen),

  • besseren Zugriff durch Archivgesetze,

  • grösseren Einfluss der Archive beim Records Management,

  • auf Archivebene: Schaffung von Bewertungsmodellen, Streben nach grösserer Kontinuität.

    Auf der anderen Seite ist die deutsche Szene durchaus nicht so praxisfremd, wie folgende Beispiele zeigen:

  • Seit Jahren bietet das «Forum Bewertung» eine wachsende Anzahl ganz konkreter Bewertungshilfen auf dem Internet an (www.forum-bewertung.de). Wie es dem Begriff «Forum» entspricht, wird diese Plattform natürlich auch für Diskussionen und Kom- mentare genutzt.
  • Der Arbeitskreis Archivische Bewertung im Verband deutscher Archivarinnen und Archivare hat 2004 ein Positionspapier zur Überlieferungsbildung publiziert, das der Vorsitzende Robert Kretzschmar ausdrücklich als «praxisorientiert» bezeichnet. Auf dieses wichtige Papier komme ich gleich nochmals zu sprechen.
  • Eben haben die deutschen Hochschularchivare eine «Handreichung» (so der Untertitel) unter dem Titel «Dokumentationsprofil für Archive wissenschaftlicher Hochschulen» herausgegeben. Dieser Leitfaden ist so konkret ausgefallen, dass sogar schon die Befürchtung auftauchte, er könnte die Einstellung archivarisch geschulten Personals gefährden ...

Gesichtspunkte und Methoden

Nur bei wenigen Unterlagen verbietet sich aufgrund ihres «intrinsischen Wertes» (also z.B. bezüglich Wert des verwendeten Materials, Kunstfertigkeit der Darstellung etc.) oder ihres erhabenen Alters der Gedanke an eine ganze oder partielle Kassation von vorneherein. Die meisten müssen es sich gefallen lassen, vor dem Raster eines Wertesystems taxiert zu werden. Dabei orientieren sich die Archivare an einer ganzen Reihe von Kategorien und Kriterien, die zum Teil miteinander in Konkurrenz stehen und in ihrer Wertschätzung ebenfalls dem Auf und Ab der archivfachlichen Konjunktur – um nicht zu sagen der «Mode» – unterworfen sind. Ich nenne hier einige Gesichtspunkte, indem ich mich auf eine Liste stütze, die in den 90er-Jahren von Robert Kretzschmar für den von der Archivschule Marburg durchgeführten Kurs «Bewertungsregeln und Archivierungsmodelle» zusammengestellt wurde. 

Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch liefert sie einen Eindruck von der Vielschichtigkeit der Ansätze und Methoden.

In den 90er-Jahren gab es in Deutschland eine zeitweilig recht dogmatisch und polemisch geführte Diskussion zur Bewertung, wobei vor allem der Gegensatz zwischen Evidenz- und Informationswert und die Frage der Berechtigung von Dokumentationsplänen im Zentrum standen. Die Früchte dieser Diskussion konnte der Arbeitskreis Archivische Bewertung als Synthese in ein Positionspapier einbringen, das 2005 in den Veröffentlichungen der Archivschule Marburg und im «Archivar» publiziert und kommentiert wurdePositionen des Arbeitskreises Archivische Bewertung im VdA zur archivischen Überlieferungsbildung. In: Neue Perspektiven archivischer Bewertung (wie Anm. 3), S. 195–206. Ebenfalls greifbar unter: http://www.archiv.net/pdf/ak_b... .. Das Papier gliedert sich in folgende Teilgebiete: Grundsätzliches, Methodisches (Bewertungsverfahren), massenhaft gleichförmige Fallakten, statistische Unterlagen, elektronische Unterlagen, audiovisuelle Unterlagen.

Bei den Grundsätzen gibt es einige Aussagen, die als völlig unbestritten gelten können, während andere vielleicht nicht so ganz selbstverständlich wirken. Als allgemein anerkannt dürften sicher die folgenden Punkte gelten: Dokumentation und Begründung (respektive Transparenz und Nachvollziehbarkeit: Wichtige Entscheidungen sollten nicht nur transparent gemacht, sondern auch begründet werden; Punkt 11), Orientierung an der «Lebenswirklichkeit» (woraus sich die Notwendigkeit der Besorgung einer Zusatzüberlieferung ergibt; Punkt 9), archivübergreifende Überlieferungsbildung (Zusammenarbeit wird propagiert; Punkte 6 und 7), Mitbeteiligung des Aktenproduzenten (Punkt 3), Engagement des Archivs in der vorarchivischen Beratung (Betreibung eines aktiven Records Managements, wobei dieser Begriff im Papier nicht auftaucht; Punkt 4).

Andere Punkte dürften weniger unbestritten sein, so zum Beispiel die sogar als erster Punkt geforderte Festlegung von Dokumentationszielen. Diese wäre wohl noch vor einigen Jahren auf heftigen Widerstand gestossen. Auch die Forderung, dass die Bewertung möglichst zeitnah zum Entstehen der Unterlagen erfolgen sollte, ist für Viele vielleicht etwas überraschend. Denn häufig ist auch die Meinung zu hören, dass eine gewisse zeitliche Distanz eine klarere Sicht ermöglicht.

Ich möchte hier noch drei Beobachtungen beifügen, die im Positionspapier nicht erwähnt werden: 

  • Wie ein roter Faden zieht sich durch die Diskussion das Bestreben, beim Bewerten vom «Fingerspitzenge- fühl» des erfahrenen Archivars wegzukommen. Statt schwierig zu benennende und zu klassifizierende «Gefühle» möchte man klare, nachvollziehbare Kriterien. In der Diskus- sion um die aktuelle Finanzkrise sind nun allerdings auch Stimmen zu hören, die einer Renaissance der «Intuition» das Wort reden. Es wird interessant sein, zu verfolgen, ob und wann diese Strömung auch in die archivische Fachdiskussion diffundiert.
  • Ein einfaches und häufig befolgtes Vorgehen, um die leidige Subjektivität zu überwinden und «objektivere» oder wenigstens «intersubjektive» Entscheide zu erreichen, ist das Vieraugenprinzip: Bewertungsentscheide von grösserer Tragweite sollten nicht von einer Person allein gefällt werden.
  • Schliesslich noch zur Notwendigkeit der Bewertung: Niemand in der Archivszene bestreitet die Notwendigkeit von Kassationen, doch fällt auf, dass sie mit unterschiedlicher Vehemenz vertreten wird. Zahlreiche, vor allem grosse Archive haben die Beweislast umgekehrt: Es müssen Argumente gefunden werden, weshalb ein Bestand archiviert werden soll, während früher nur die Kassationen begründet werden mussten. (Mir drängt sich der Eindruck auf, als Archivar fürs Kassieren einzutreten, wirke heute «cooler» als das Eintreten fürs Archivieren ...).

Papier- und Datenflut: das Mengenproblem 

Natürlich ist man im archivischen Alltag häufig auch mit der Bewertung von einzelnen kleinen Beständen, Dossiers oder sogar Einzeldokumenten konfrontiert. Die eigentliche Virulenz und das Interesse der Fachwelt erhält das Thema aber natürlich erst durch die schiere Menge.

Das Mengenproblem wurde vor allem gegen Ende des letzten Jahrhunderts oft und mit allen möglichen Metaphern beschrieben. So fragte etwa 1992 der Philosoph Hermann Lübbe: «Wie lässt sich mit dieser Schriftgutlawine fertig werden? Dem Laien wird als Antwort auf diese Frage zunächst der Papierkorb einfallen.»Lübbe H., Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart, Berlin, 1992, S. 160.Nun, wir sind ja hier nicht unbedingt Laien, aber wir werden auf dieselbe Lösung kommen: Mit Shreddern und Aktenvernichtern werden Dokumente zu Schnitzeln zerkleinert. In der Regel sind die Archivare dabei allerdings nur als «Schreibtischtäter» aktiv. Denn die meisten Archive führen die Kassationen nicht gleich selber durch (mein Heimarchiv ist hier eine Ausnahme).

Unterdessen hat sich die seit Längerem prophezeite Trendwende vollzogen: Eine wachsende Zahl der für die Massenakten verantwortlichen Dienststellen hat die Umstellung auf elektronische Aktenablage bereits vollzogen oder wird dies in absehbarer Zeit tun. Dass dies Auswirkungen auf die Bewertungstätigkeit der Archive hat, stellt niemand in Abrede. Die Vorstellung, dass digitale Unterlagen gar nicht bewertet werden müssten, weil kaum Magazinflächen beansprucht werden, teilt heute zwar wohl niemand mehr. Denn die Folgekosten sind auch hier nicht zu unterschätzen. Der Speicherplatz dürfte dabei noch das kleinste Problem sein, mehr ins Gewicht fällt der Aufwand für die Aufbereitung der Daten zur Benutzung und die periodische Migration.

Deshalb gehe ich einmal davon aus, dass Bewertung, unabhängig von der Form der Aufzeichnung, sich nicht wesentlich ändern wird. Allerdings muss sie noch mehr als bisher prospektiv erfolgen. Denn die Löschung von Daten ist sehr viel einfacher als das physische Vernichten von Akten. Das erste Erfordernis in Bezug auf pozentiell archivwürdige Datenbanken ist deshalb die Erkundigung, ob Löschungen vorgesehen oder gar vorgeschrieben sind. Ob die Bewertung dann auf einzelne Datenfelder «heruntergebrochen» werden soll, ist zu diskutieren; hier spielen technische Fragen eine wichtige Rolle, beispielsweise: In welchem Format kann und soll übernommen werden? Welche Verknüpfungen und Funktionalitäten müssen erhalten bleiben?

Abgesehen vom Bundesarchiv sind konkrete Erfahrungen mit der Bewertung im digitalen Bereich in der schweizerischen Archivszene noch selten. Es sei denn, man würde die Auswahl der Dienststellen, mit denen man zwecks Übernahme von digitalen Unterlagen in Kontakt tritt, auch als Bewertung bezeichnen. Mehr Aufmerksamkeit ziehen momentan noch Fragen zu den Möglichkeiten der Übernahme und Speicherung elektronischer Daten auf sich.

Ökonomische Rahmenbedingungen

Selbst wenn sich die Bewertung nur an den genannten historischen und archivfachlichen Kriterien orientiert, bleibt der Spielraum des Ermessens gross. Archivistik ist eben keine exakte Wissenschaft. In der Regel spielen «fachfremde» Faktoren eine Rolle, in erster Linie ökonomische. Die Archive müssen ihre Aufgaben in einem von ihrem Träger gesetzten ökonomischen Rahmen erfüllen. Auch wenn sie den Rahmen mit Glück und Geschick etwas erweitern können, müssen sie Prioritäten setzen. Dass die Träger direkt in die Bewertungskompetenz der Archive eingreifen, indem sie ihnen konkrete Einschränkungen der Übernahmen vorschreiben, kam meines Wissens in der Schweiz noch nie vor, ist in Zeiten knapper Ressourcen aber durchaus vorstellbar. Berüchtigt sind dagegen die quantitativen Vorgaben, die vor einigen Jahren mehrere deutsche Bundesländer ihren Archiven zumuteten. So sollte das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen höchstens noch 1% (einer notabene unbekannten Gesamtmenge) oder 2,2 Lfkm Archivgut jährlich übernehmen dürfen. Gegen diese Zumutungen haben sich die meisten Archivarinnen und Archivare empört, während andere versuchten, die Vorgaben als Chance zu sehen und kreativ zu nutzen.

In der Tat tun die Archive gut daran, sich selber ebenfalls mit den ökonomischen Implikationen der Bewertung zu befassen. Diese sind nicht zu unterschätzen. Dabei ist nicht nur an Magazine und Gestelle zu denken, sondern es ist zu berücksichtigen, dass eine unterlassene Kassation auch Kosten in Form von Erschliessungs- und konservierenden Arbeiten generiert.

«Strategische Bewertung» oder: Bewertung und Speicherkapazitäten 

Manchmal können auch übergeordnete Ziele die Bewertung massgeblich beeinflussen. Sind diese bewusst, könnte man von strategischen Überlegungen sprechen. Vielleicht üben sie aber auch eher unbewusst ihre Wirkung aus. In diesem Zusammenhang hier ein Exkurs über das unterschiedliche Vorgehen von zwei früheren Chefs des Staatsarchivs Luzern:

– Josef Schmid, Staatsarchivar 1941 bis 1970, ging davon aus, dass das in einem historischen Gebäude untergebrachte Archiv mit seinen Magazinkapazitäten von knapp zwei Regalkilometern für alle Zeiten ausreichen sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, veranlasste er umfangreiche Kassationen, zum Beispiel im Bereich der Kriminaluntersuchungen aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Bewunderer des barocken Luzern eines Renward Cysat hielt er diese Spätzeit nur für beschränkt archivwürdig. Auch Josef Schmid hatte also eine Art Dokumentationsplan im Kopf, allerdings nicht einen bewusst erstellten, zur Diskussion gestellten und offen vorliegenden Dokumentationsplan.

– Sein Nachfolger Fritz Glauser, im Amt 1971 bis 1997, hatte ein ganz anderes Ziel: Er wollte einen Archivneubau. Deshalb war er sehr grosszügig bei der Übernahme von Massenakten. Als sich sein drittes Aussenma- gazin langsam füllte, hatte er die Entscheidungsträger so weit, dass sie die Notwendigkeit eines Neubaus einsahen. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte, liess Fritz Glauser dann allerdings einen Teil dieser Akten grosszügig kassieren. Dies trug wohl ebenfalls dazu bei, dass die zuständige Regierungsrätin bei der Eröffnung des neuen Archivgebäudes davon sprechen konnte, Luzern habe eben nicht nur einen gescheiten, sondern auch einen schlauen Staatsarchivar.

Rettermentalität und Robustheit

In seinem bereits erwähnten Beitrag äussert sich Josef Zwicker kritisch und wie gewohnt provokativ zur «Rettermentalität»2. Diese zeige sich darin, dass gefährdete Bestände insbesondere privater Herkunft auch in Zeiten gekürzter Ressourcen ohne Rücksicht auf den Erschliessungsaufwand erst einmal übernommen würden. In der in arbido publizierten Version schreibt Zwicker: «Die Praxis, die Unterlagen zunächst einmal zu übernehmen und zu denken, sie irgendwann später zu erschliessen, ist Selbstbetrug.»3Kehrseite des Archivierens», arbido, 2004, Nr. 7–8, S. 21. 

Hier bin ich, mit Verlaub, anderer Meinung; nicht nur, weil Erschliessung in unterschiedlicher Tiefe erfolgen kann. Ich denke, dass hier die «knappen Ressourcen» einen zu grossen Einfluss auf die Bewertung erhalten; ganz abgesehen davon, dass die Einschätzung darüber, was «knapp» bedeutet, divergent sein wird. Interessant an Zwickers Beitrag finde ich noch einen anderen Aspekt, nämlich dass er mehrmals den Begriff «Robustheit» erwähnt. Diese brauche es, wenn der Archivar, die Archivarin die Übernahme angebotener Unterlagen ablehnt. Dies erinnert mich an eine Äusserung meines früheren Chefs Fritz Glauser, dass die inhaltliche Bewertung halt eine gewisse «Skrupellosigkeit» verlange – ein erstaunliches Statement für einen so sensibel wirkenden Berufsmann wie Fritz Glauser. Aber es stimmt: Tatsächlich verlangt die Ablehnung einer Übernahme ebenso wie die Kassation von Unterlagen eine gewisse psychische Kraft, die wohl für die Überwindung des Zweifels gebraucht wird.

Ich glaube allerdings, dass es die Robustheit auch im umgekehrten Falle braucht, dann nämlich, wenn man zum Beispiel in einer Besprechung gegen die Mehrheit der Kollegen für Übernahme respektive Archivierung eintritt. Wie ich auch schon festgestellt habe, kann der Wind übrigens rasch drehen, manchmal innerhalb einer einzigen Sitzung: Plötzlich scheint der Weltgeist in Richtung «Aufbewahren» – um nicht zu sagen «Retten» – zu wehen, während kurz vorher noch alle vom «Mut zur Lücke» sprachen. Dies gilt selbstverständlich auch in umgekehrter Richtung.

Das Unbehagen beim Bewerten – und ein schwacher Trost 

Ein Rest-Unbehagen beim Bewerten wird sich nicht vermeiden lassen, auch wenn besser abgestützte Entscheide und ausgefeiltere Methoden hier Linderung bringen werden. Trost bietet, wie so oft, die Relativierung, und zwar in zweierlei Hinsicht.

Erstens: Welche Bewertungsentscheide wir auch fällen, wir können davon ausgehen, dass die Nachwelt darüber den Kopf schütteln wird. Aber: Auch die Nachwelt hat eine Nachwelt.

Zweitens: Wir arbeiten nicht im Amt für Migration: Es geht letztlich doch «nur» um das Asyl von Daten, nicht von Menschen. – Aber das ist natürlich kein Statement, das sich «professionell» nennen darf ...

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Max Huber

Staatsarchiv Luzern

  • 1 SZG 59 (2001), S. 413–534.
  • 2 Zwicker (wie Anm. 3), S. 117.
  • 3 Zwicker J., «Erlaubnis zum Vernichten: Die 

Abstract

L’évaluation des archives est marquée par l’opposition entre théorie et pratique. Il existe en la matière une multiplicité d’approches et donc une multitude de méthodes. En Allemagne, le débat sur l’évaluation a été globalement assez dogmatique. Il a donné lieu en 2004 à la rédaction d’un document de synthèse qui s’est révélé être d’une utilité réelle sur le terrain. Peu importe qu’il s’agisse de réduire une masse de papier ou une masse de données numériques.

L’évaluation ne s’applique pas dans le vide. Elle est toujours marquée par de nombreux facteurs, en partie inconscients: des facteurs sociaux, professionnels, économiques, stratégiques et même psychiques entrent en jeu. Les archivistes doivent certes intégrer une perspective d’économie, mais ils devraient éviter de considérer que, de ce point de vue, le «sauvetage» d’archives soit un geste dépassé.