Records Management in Verwaltung und Privatwirtschaft – Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Eine Einführung
Die Idee für diese Tagung hat die Arbeitsgruppe «Records Management und Digitale Archivierung» 2005 entwickelt, und zwar im Zusammenhang mit der gemeinsam mit der HTW Chur erarbeiteten Umfragestudie «Records Management Survey Schweiz in ausgewählten Sektoren der Privatwirtschaft (2005/ 2006). Ziel der Tagung ist es, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Records Managements in Verwaltung und Privatwirtschaft auszuleuchten und anhand vordefinierter Leitthemen herauszuarbeiten.
Records Management Survey Schweiz in ausgewählten Sektoren der Privatwirtschaft (2005/2006), Synthesebericht hrsg. vom Ausschuss eArchiv des VSA und der HTW Chur, Fachbereich Informationswissenschaft, Chur 2006: http://www.vsa-aas.org/uploads/media/RMSurveySchweiz.pdf. Fast zum gleichen Zeitpunkt hat die Firma Sieber und Partner zusammen mit dem Kompetenzzentrum Records Management eine Studie zum Records Management in der schweizerischen Privatwirtschaft publiziert: Records Management – Aufbewahrungspraxis in der Schweiz. Wahrnehmung der regulatorischen Anforderungen und deren Umsetzung in Schweizer Unternehmen, Bern 2006.
Diese Studie ist dabei bewusst als Ergänzung zur Studie der KLA Schweiz und Liechtenstein über die dauerhafte Archivierung elektronischer Unterlagen erschienenVgl. den Bericht «Gesamtschweizerische Strategie zur dauerhaften Archivierung von Unterlagen aus elektronischen Systemen» von 2002: http://www.vsa-aas.org/uploads/media/d_strategie.pdf., die sich ausschliesslich auf den öffentlichen Sektor bezogen hatte. Daraus entstand eine interessante Debatte innerhalb der Arbeitsgruppe, weil sich erstens der Anspruch aufdrängte, den Bezugsrahmen nicht nur auf die digitale Archivierung zu beschränken, sondern auf den gesamten Lebenszyklus von digitalen Unterlagen auszuweiten, und dies zweitens anhand einer Gegenüberstellung der Thematik der Aktenführung in der öffentlichen Verwaltung und in der Privatwirtschaft abzuhandeln.
Die AG befand dies als eine spannende Diskussion, die eine VSA-Tagung wert sei. Als dann das Thema «Records Management» in den vergangenen drei Jahren immer mehr an Aktualität gewann und der VSA dies bezüglich aufholte – nicht zuletzt im Zuge der zunehmenden Aktenführungsprojekte in den Kantonsverwaltungen –, ist diese Tagung endgültig Tatsache geworden.
Ziel der Tagung ist es, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Records Managements in Verwaltung und Privatwirtschaft auszuleuchten und anhand vordefinierter Leitthemen herauszuarbeiten. Dabei soll deutlich werden, dass es sowohl Aktionsfelder gibt, in denen sich Verwaltung und Privatwirtschaft gegenseitig befruchten können, als auch Gebiete, die relativ in kompatibel sind.
Die AG hat einen Katalog von Leitthemen herausgearbeitet, mit denen sich die Referenten auseinandersetzen können oder die einfach als Grundlage der Debatte dienen. Wie fruchtbar diese Leitthemen schliesslich sind, müssen die Leser und Tagungsteilnehmer entscheiden.
Die AG befand jedoch dieses Konzept der Leitthemen durchaus tagungstauglich, auch weil es über die sektoriellen Gegensätze hinausweist und generische Anstösse liefert.
Die Leitthemen führen in Form von vier Hauptblöcken durch die Tagung und bilden so einen roten Faden. Die Tagungsbeiträge sollen dabei mögliche Antworten auf die Fragen «Warum Records Management?» und «Wie Records Management?» geben.
1. Normative Rahmenbedingungen/Gesetze/Zielsetzungen/Strategien Welches sind die Treiber des Records Managements?
2. Verankerung in der Organisation/Rollen und Verantwortlichkeiten/Verfügbare Ressourcen --> Verhältnis u.a. zwischen Records Managern und Archivaren3.
3. Records und Life Cycle Management Konzepte/Rolle des Geschäftsprozessmanagements.
4. Praktische Umsetzung für physische und elektronische Records/IT-Solutions.
Die folgende detaillierte Übersicht enthält zum Teil bewusst provokative oder gewagte Aussagen, sie sollen zum Nachdenken anregen und die Debatte über die Tagung hinaustragen (siehe Themen 1–4).
Der Autor hat dazu in einem Artikel zur Records Management-Studie von 20064 bereits ein paar Thesen zu potenziellen Spannungsfeldern formuliert, die allenfalls auch in die Tagungsdebatte einfliessen können. Die Themen 1 bis 3 beleuchten Unterschiedsfelder, der vierte Punkt betrifft die Ähnlichkeiten.
1. Relevanz der organisatorischen Einbettung und Positionierung der Records-Management-Funktion in der Organisation
Während im öffentlichen Sektor in der Regel ein zwingender Aufbewahrungsauftrag vom Gesetz her besteht und daraus eine entsprechende (stufenge rechte) Funktion mit den nötigen Kompetenzen abgeleitet wird, muss sich in der Privatwirtschaft die Funktion Records Management ihre Position in der Organisation trotz der gesetzlichen Vorgaben meist erst erkämpfen. Wenn sie dann einmal geschaffen ist, geht es um die Einbettung in der Unternehmenshierarchie. Hier gilt: je höher, desto besser der Stellenwert von Records Management und desto grösser die Budgets. Allerdings kann eine gute Positionierung den Durchsetzungserfolg eines Records Management-Programms noch nicht garantieren, aber es ist eine wichtige Voraussetzung. Während das Topmanagement in der Regel die Legitimation von Records Management ohne Vorbehalte einsieht (compliance), hapert es beim Middle Management, da diese Stufe primär am Erfolg ihrer Geschäftsprozesse gemessen wird und nicht an der Qualität des Informations und Records Managements.
2. Anforderungen an die Aufbewahrung
Während im öffentlichen Sektor die Aufbewahrungsanforderungen durch die jeweiligen Archivgesetze und verordnungen (Kantone und Bund) einschliesslich der dauernden Aufbewahrung (Auftrag zur Überlieferungsbildung) definiert sind (z.B. mittels Registraturplänen), betrifft dies im privaten Sektor nur bestimmte Arten von Unterlagen, die als Akten einer gesetzlichen Aufbewahrungsfrist unterliegen (v.a. Geschäftsbücher, Steuerakten). Selbst diese Unterlagen werden oft nicht systematisch in Aufbewahrungsplänen (retentionschedules) dokumentiert, obwohl sie mehr oder weniger sachgemäss aufbewahrt werden. Gross wird die Unsicherheit dagegen bei Unterlagen ausserhalb der gesetzlichen Aufbewahrungsanforderungen, die jedoch für das betriebliche Knowhow relevant sind. Hier wird meist nach Gutdünken und unkoordiniert aufbewahrt. Zusätzliche Komplexität erwächst denjenigen Unternehmen, die neben den nationalen Aufbewahrungsanforderungen auch noch internationalen Regeln nachkommen müssen (z.B. Sarbanes Oxley, SEC). Hier haben es öffentliche Einrichtungen einfacher, sie müssen nur den nationalen Normen Folge leisten.
3. Heterogenität und Dynamik der Prozesse
Es wäre zu untersuchen, inwiefern es Unterschiede betreffend die Heterogenität und Dynamik von Geschäftsprozessen zwischen den Sektoren gibt. Stimmt die vage Vermutung, dass die Privatwirtschaft einem intensiveren Change Management (Markt) ausgeliefert ist? Grundsätzlich steht zwar jede Bürokratie (unabhängig vom Sektor) vor der Aufgabe, für alle vorkommen den Geschäftsprozesse die daraus generierten Unterlagen adäquat zu handhaben, und je verschiedenartiger diese anfallen, desto komplexer und anspruchsvoller dürfte ihr Management sein. Aber es geht auch um das Verhält nis zwischen Entscheiden mit vordefiniertem Ergebnis und Entscheiden mit offenem Ergebnis. Ersteres ist berechenbarer und als Workflow einfacher zu entwerfen. Es gibt eine endliche Anzahl Records-Serien innerhalb eines definierten Prozesses. Es ist zu vermuten, dass im öffentlichen Sektor der Anteil von Entscheiden mit vordefiniertem Ergebnis grösser ist als jener von Entscheiden mit offenem Ergebnis.
Gibt es Hinweise aus der betriebswirt schaftlichen Literatur, die diese These stützen?
4. Ähnlichkeiten
Wo es jedoch mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede gibt, ist in den Bereichen Records Management-Projektmanagement sowie in der technischen Implementierung von Lösungen, wenn sie nicht allzu (branchen)spezifisch sind (Fachapplikationen), also etwa auf der Ebene der Langzeit oder EMail-Archivierung. Auch in der Formatfrage kämpfen alle mit derselben Problematik, unabhängig vom Sektor. Was PwC vor zwei Jahren als Empfehlung für die Umsetzung von Records Management Projekten im öffentlichen Sektor abgegeben hat, lässt sich genauso gut auf den privaten Sektor übertragenVgl. Reitze, T.; Braun, T.; Bischof, M.: Elektronische Verwaltung von Akten und Geschäftsprozessen, Studie zum aktuellen Stand des Records Management im öffentlichen Sektor, PwC Bern 2004, S.21.. Womit ebenfalls alle zu kämpfen haben, ist mit der Durchsetzung einmal beschlossener Regelwerke und Massnahmen innerhalb eines Records Management Programms. Schliesslich geht es auch um die ständige Verbesserung der Prozesse bzw. um ein Monitoring des Reifegrads eines Records Management Programms. Dazu hat die ARMA ein generisches Modell vorgestellt, das eine Organisation dabei unterstützen kann, ihre Records Management Fortschritte zu messenVgl. GARP: General Accepted Record Keeping Principles: http://www.arma.org/garp/index.cfm..
Fazit
Unabhängig vom Sektor ist es das Ziel eines jeden effizienten Records Management Programms, eine verlässliche Grundlage der Aktenführung sowie des Informationsmanagements zu gewährleisten, um Rechenschaftsfähigkeit, Risikominimierung und Sicherheit im Umgang mit Geschäftsinformation sicherzustellen.
Der Fall Tinner hat 2009 in der Öffentlichkeit für einiges Aufsehen gesorgt, haben sich doch viele Bürger zu Recht gefragt, ob denn die Verwaltung keine Transparenz in ihrer Aktenführung hat. Eine solche Situation kann jederzeit auch in der Privatwirtschaft auftreten, wofür es zahlreiche Beispiele gäbe. Anhand solcher Zwischenfälle wird jeweils auch dem Management und nicht nur den Records Managern bewusst, welche Auswirkungen eine schlechte Aktenführung haben kann.