Commentaires Résumé
2013/1 Archives privées

Vertrauen statt Vergessen – wie Archive privater Unternehmen öffentlich werden

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Der Betrieb ausreichend dotierter historischer Archive ist auch im Wirtschaftsbereich die Basis für (unternehmens-)geschichtliches Benchmarking. Ein solches erlaubt es, Ursache und Verlauf positiver und negativer Firmenentwicklungen zu erforschen und zu vergleichen. Für eine erfolgreiche Neuorientierung des Unternehmens selbst können die archivierten Informationen gar die Richtung weisen, sind sie entsprechend gepflegt und verfügbar. Der Mehrwert der Archive als Wissenszentren hat allerdings seinen Preis. Viele Privatunternehmen wollen oder können diesen mit Hinweis auf das Wirtschaftlichkeitsargument nicht (mehr) bezahlen. Gefragt sind dann – aber spätestens nach Konkursen oder Fusionen – bestenfalls die Auffangnetze öffentlicher Archive. Zwei aktuelle Beispiele des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich skizzieren exemplarisch, wie Wirtschaftsarchive durch gemeinsames Engagement von privater und öffentlicher Hand gesichert werden – mit Gewinn für beide Seiten!

Wirtschaftsarchive in der Schweiz

Professionell betriebene und mit ausreichenden Ressourcen ausgestattete Firmenarchive in der Schweiz belegen in ihrer unterschiedlichen Ausprägung, dass weder die Grösse eines Unternehmens noch die Gesetzesgrundlage hinreichende Voraussetzungen für ihre Existenz sind. Entscheidend ist vielmehr die Überzeugung der Akteure vom Wert gut organisierter Firmeninformation. Die Anbindung und Ausrichtung der Archive hängt dann davon ab, ob der Aktenbildner die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Unternehmensgeschichte in den Vordergrund stellt, oder ob er z.B. das History Marketing befördern will.

Archive stehen grundsätzlich im Spannungsfeld dreier divergierender Interessen: jener der Urheber des Archivguts, jener der Benutzerinnen und Benutzer und schliesslich jener der im Archivgut dokumentierten natürlichen und juristischen Personen. Immaterialgüterrecht, Öffentlichkeitsprinzip bzw. Datenschutz- und Persönlichkeitsschutzrecht sind die drei Kategorien, in welchen um das heikle Gleichgewicht dieser Interessen gerungen wird. Das gilt für staatliche wie für Privatarchive, wenngleich mit deutlichen Unterschieden in der Priorisierung.

Nur private Aktenbildner sind aber – von den Vorgaben hauptsächlich des Obligationenrechts einmal abgesehen – in ihrem Archivierungsentscheid grundsätzlich frei. Entscheiden sie sich verantwortungsvoll für die Zusammenarbeit mit öffentlichen Institutionen, ist bei der Wahl der professionellen Unterstützung ein Vertrauensverhältnis zum aufnehmenden Archiv die zentrale Voraussetzung.

Anfang des 20. Jahrhunderts war es in der Schweiz zur Gründung zweier spezialisierter Institutionen mit öffentlicher Trägerschaft gekommen, die sich der Wirtschaft als mögliche Partner in Archivierungsfragen anboten. Das Schweizerische Wirtschaftsarchiv in Basel (SWA) und das «Archiv für Handel und Industrie der Schweiz» in Zürich verschrieben sich auch aufgrund ihrer Nähe zu den Hochschulen der Wirtschaftsdokumentation als Basis einer fundierten Forschung1.

Das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich führt den Auftrag seiner Vorgängerinstitution in der Wirtschaftsregion Zürich aktiv fort. Zu Beginn der 1990er-Jahre lancierte es dazu zusammen mit dem Vorort des Schweizerischen Handels- und Industrievereins (heute: economiesuisse) seinen Fachbereich Wirtschaft. Mit dessen «Pflege schweizerischen Kulturgutes» fügt es sich heute in die strategische Ausrichtung der ETH Zürich, welche diese Dienstleistung zugunsten von Gesellschaft und Wirtschaft als nationale Aufgabe erbringt2.

Im Fokus der Akzessionspolitik stehen private Bestände wie Archive von Wirtschaftsverbänden oder bedeutende Unternehmensarchive, die ein Forschungspotenzial im ETH-Kontext aufweisen. Kriterien für einen Aufnahmeentscheid sind nebst dem Einpassen in dieses Sammlungsprofil aber auch das Vorhandensein von Kernakten, der Gefährdungsgrad und nicht zuletzt die Finanzierbarkeit der Archivierung.

Ein zweites Leben für das Firmenarchiv von Landis & Gyr 

Im Jahr 2009 fand das historische Firmenarchiv des Elektrokonzerns Landis & Gyr AG zusammen mit weiteren Unternehmensarchiven erstmals Eingang ins Schweizerische Inventar der Kulturgüter von nationaler Bedeutung3. Fast gleichzeitig wurden Pläne der damaligen Bestandeseignerin Siemens Schweiz manifest, die Liegenschaft umzunutzen, in der das Firmenarchiv untergebracht war. Vertreter der ehemaligen Besitzerfamilien von Landis & Gyr bemühten sich in dieser motivierenden wie fragilen Situation um eine nachhaltige Lösung, welche auch die erstmalige Öffnung des Bestandes für die historische Forschung einschliessen sollte. 

Das Archiv im Umfang von rund 360 Laufmetern Materialien aus dem Zeitraum 1896–1996 war im Vorfeld des 100-jährigen Firmenjubiläums aufgebaut und fruchtbar gemacht worden. Im Zuge zweier Veräusserungen des Konzerns in rascher Folge wurde es Ende der 1990er-Jahre aber auf dem damaligen Stand gewissermassen eingefroren. Erst die zu klärende Immobilienfrage und das historische Interesse der Familie Gyr öffneten die Archivtüren ein zweites Mal. Im Sog dieser positiven Dynamik sicherte Siemens erfreulicherweise zu, einen öffentlichen Archivierungspartner beizuziehen, um künftig der Forschung Zugang zum Firmenbestand zu verschaffen.

Angesichts der grossteils technischen Ausrichtung des Aktenbestandes sowie der Möglichkeiten eines Hochschularchivs in den Bereichen Forschung und Lehre fiel die Wahl der Projektinitiatoren auf das Archiv für Zeitgeschichte. Im Juni 2010 übergab Siemens Schweiz das Firmenarchiv im Rahmen einer Schenkungsvereinbarung. Erben des langjährigen Konzernlenkers erklärten zudem die Absicht, Archivierungsarbeiten und Forschungsprojekte mit privaten Mitteln zu fördern. Und die ETH-Schulleitung willigte ihrerseits in die Übernahme der künftigen Infrastrukturkosten für Lagerung und Bewirtschaftung des Bestandes ein. 

Gemeinsames Engagement für Archivierung und Forschung 

Bestandteil des Firmenarchivs ist eine qualitativ und quantitativ bestechende Kollektion schweizerischer Industriefotografie von ca. 80 000 Papierabzügen und 30 000 Glasplatten. Erste erhebliche Mittel mussten für deren fachgerechte Archivierung beschafft und verwendet werden. Die Stiftung Landis & Gyr sprach für diese Arbeiten eine Anschubfinanzierung von SFr. 50 000.–. Sie setzte damit ein verdankenswertes Zeichen der Verbundenheit mit der Geschichte des Unternehmens, aus dem sie einst selbst hervorgegangen war.

An der Universität Zürich wurden im Herbst 2011 und im Frühling 2012 erste historische Forschungsseminare zur Regional- und Firmengeschichte von Landis & Gyr durchgeführt. Am Exempel liess sich das weite Feld von lokaler Verankerung und globaler Ausdehnung diskutieren, das auch ein breiteres Publikum interessiert: Welche Voraussetzungen muss ein Standort bieten, damit eine Firma investiert? Wie wichtig ist die politische Unterstützung? Und wie erschliessen Firmen neue Märkte? Ausgehend von solchen Fragen entstehen zurzeit vertiefende Lizentiats- und Masterarbeiten etwa zur Entwicklung des Unternehmens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Und in der Reihe «Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik» erschien im Herbst 2012 eine Biografie über Karl Heinrich Gyr, der die Geschicke der Firma seit seinem Einstieg als Teilhaber im Jahr 1905 massgeblich prägte4. Die aus dem Fundus der Fotosammlung im Unternehmensarchiv reich illustrierte Publikation konnte der Öffentlichkeit als Gemeinschaftsprojekt des Vereins für wirtschaftshistorische Studien und des Archivs für Zeitgeschichte präsentiert werden. 

Swissmem-Archive – Kulturerbe der Schweizer Maschinenindustrie 

Auch im Fall von Swissmem brachte ein bevorstehender Umzug Bewegung in die Frage nach einer Zukunft für die Verbandsarchive, welche zuvor über Jahrzehnte sorgfältig geführt worden waren. Im Oktober 2012 gab der Dachverband der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie nach mehr als einem halben Jahrhundert sein für die aktuellen Verhältnisse überdimensioniertes Domizil im Zürcher Seefeld auf. Einige Monate zuvor hatte sich die Verbandsleitung mit dem Archiv für Zeitgeschichte in Verbindung gesetzt, wo mit den historischen Beständen von economiesuisse bereits die Archive des Spitzenverbandes der Wirtschaft zugänglich gemacht werden.

Während der Sondierungsgespräche und der Sichtungsarbeiten im Sommer 2012 wurde klar, dass vor dem Hintergrund der kritischen Lage der MEM-Industrie in der Schweiz auch ihr Verband weitere Kostensenkungsmöglichkeiten prüfen würde. Dass die Entsorgung der historischen Archive vorübergehend in Betracht gezogen war, machte ein Medienbericht im Echo der Zeit im Nachgang der Sicherung der Bestände öffentlich5. Die Verhandlungen einer Archivübernahme an die ETH waren dann aber von Beginn weg vom eingangs erwähnten Vertrauensverhältnis geprägt. Während auf der einen Seite die Akzessionsarbeiten vorangetrieben wurden, gaben Vorstand und Geschäftsleitung von Swissmem der Verantwortung für die Geschichte ihrer Industrie Ausdruck, indem sie entschieden, die Hälfte der Archivierungskosten zu übernehmen und einen finanziellen Beitrag von SFr. 185 000.– zu leisten.

Die Swissmem-Archive bilden eine willkommene Ergänzung zum historischen Vorort-Archiv und den Dokumentationsbeständen der Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft. Denn die rund 240 Laufmeter umfassenden Archive des Vereins Schweizerischer Maschinen-Industrieller (VSM), des Arbeitgeberverbandes der Schweizer Maschinenindustrie (ASM) und von Swissmem dokumentieren die spezifische Geschichte der schweizerischen Maschinenindustrie und ihrer Branchen seit 1883.

Vertrauen wächst aus gemeinsamer Verantwortung 

Welches waren die Entstehungsbedin- gungen der Landis & Gyr AG oder des Vereins Schweizerischer Maschinen- Industrieller? Welche Rolle spielte der Elektrokonzern in Stadt und Kanton Zug oder der Branchendachverband in der Schweiz? Wie gross war der Einfluss einzelner Unternehmerpersönlichkeiten oder von Verbandsspitzen? Und wie gestaltete sich das wechselseitige Verhältnis von Firmen- und Verbandsleitung zu Mitarbeitenden, zu anderen Verbänden, zu Politik und Gesellschaft ganz allgemein?

Die Überantwortung des Landis & Gyr-Archivs wie auch der historischen Bestände von Swissmem an das Archiv für Zeitgeschichte ermöglicht durch deren gleichzeitige Öffnung künftig die Beantwortung derartiger Fragen. Aus den neu zugänglichen Archiven können wertvolle Erkenntnisse zur schweizerischen Wirtschaftsgeschichte gewonnen und diese einer interessierten Öffentlichkeit vermittelt werden.

Die Schenkungen bzw. deren Annahme sind positive Zeichen der gemeinsamen Verantwortung für die Erhaltung des historischen Wirtschaftserbes. Öffentliche Archive können in solchen Kooperationsprojekten mit ihrer Fachkompetenz Hand bieten, als vertrauensvolle Partner für eine nachhaltige Verankerung dieser Geschichte im kollektiven Gedächtnis der Schweiz zu sorgen. Die privaten Aktenbildner wie Swissmem oder die Landis & Gyr AG bzw. deren Nachfolger setzen ihrerseits durch die substanzielle Finanzierung der Sicherung ihrer Archive ein verantwortliches Signal, den Mehrwert dieser Dienstleistungen entsprechend abzugelten.

Die Bestandesöffnungen sind aber auch ein Vertrauensbeweis der Donatoren gegenüber der wirtschaftshistorischen Forschung in der Schweiz. Die kooperativen Anstrengungen aller Personen und Institutionen, welche derartige Projekte ermöglichen und sich um die Erschliessung, Bewahrung und Vermittlung privater Wirtschaftsarchive kümmern, sind entsprechend zu würdigen und einmal mehr dringend zur Nachahmung empfohlen. 

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Daniel Nerlich

Seit 1996 Leiter des Fachbereichs Wirtschaft im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, seit 2003 stellvertretender Leiter des Archivs. Präsident der Abeitsgruppe «Archive der privaten Wirtschaft» und seit 2013 Vizepräsident des VSA. Der promovierte Historiker und wissenschaftliche Archivar begann seine berufliche Laufbahn als Assistent und Lehrbeauftragter am Historischen Seminar der Universität Zürich und war Gründungspartner eines Unternehmens für historische Arbeiten und Information Management.

Résumé

Une archive historique suffisamment bien dotée constitue également pour l’entreprise une base importante pour le benchmarking. Une telle archive permet en effet d’étudier et de comparer les causes et les processus de son développement, qu’il soit positif ou non. Les informations archivées peuvent même être de toute première utilité pour une éventuelle réorientation de l’entreprise; elles doivent donc être entretenues en conséquence et disponibles. La plus-value que représente l’archive en tant que source de connaissances a toutefois son prix. Nombre d’entreprises privées ne veulent ou ne peuvent (plus) le payer en avançant des arguments d’économie et de rentabilité. Le cas échéant,on ne pourra donc tout au plus –et souvent après des faillites ou des fusions – que se référer aux archives publiques. Deux exemples récents des Archives d’histoire contemporaine de l’EPF de Zurich montrent comment des archives économiques peuvent être sécurisées moyennant un partenariat privé-public. Une collaboration qui est tout bénéfice pour les deux parties concernées.