Commentaires Résumé
2017/4 Coopération

Archive und Museen sichern gemeinsam die Geschichte einer Industrie

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Früher war Zürcher Seide weltberühmt. Im 19. Jahrhundert wurde der Kanton Zürich neben den Regionen um Lyon, Como und Krefeld zum wichtigsten Zentrum der europäischen Seidenindustrie. In den letzten Jahren konnte das Staatsarchiv Zürich zahlreiche Firmen- und Familienbestände übernehmen.

Viele der Zürcher Seidenfirmen waren bis zur Rezession der 1970er Jahre aktiv, einige sogar noch länger. Um die Geschichte der Industrie und ihrer Eigentümer zu dokumentieren, hat das Staatsarchiv des Kantons Zürich 19 Bestände übernommen, insgesamt gut 130 Laufmeter. Die zugehörigen Namen lesen sich wie ein Who's Who der Zürcher Bourgeoisie im 19. und 20. Jahrhundert: Bodmer, Gessner, Heer, Stehli, Stünzi, Trudel, Weisbrod-Zürrer und Zwicky. Hinzu kommen Bestände von Verbänden und Institutionen, so beispielsweise der früheren "Seidentrocknungsanstalt" (heute Testex AG).

Papier ins Archiv, Stoff ins Museum

Das Projekt zur Sicherung der Bestände der Zürcher Seidenindustrie lief Ende 2011 an, nach Kontakten zwischen Vertretern der Zürcher Seidenindustrie-Gesellschaft (ZSIG) und des Staatsarchivs des Kantons Zürich (StAZH). Bald kam das Schweizerische Nationalmuseum (SNM) als dritter Partner ins Boot. Gemeinsam wurde beschlossen, die Bestände aufzuteilen, gemäss dem Prinzip "Papier ins Archiv, Stoff ins Museum", aber auch entlang dem aufwändigen Produktionsprozess der gemusterten Seidenstoffe: Deren Dessins wurden von Hand gezeichnet und dann als sogenannte Patronen auf gerastertem Musterpapier umgesetzt. Die Patrone bot die Grundlage für die Herstellung der Lochkarten, die den Jacquard-Webstuhl steuerten, so dass komplexeste Muster gewebt werden konnten. Jedes Dessin erhielt eine Kennzeichnung, die in Musterbüchern und auf Ausstellungsstücken wieder auftauchte. So kamen denn nicht nur Stoffe und Musterbücher, sondern auch Patronen und Listen mit Dessinnummern ins Museum. Doch auch die Bestände, die im Archiv landeten, sind von einer fast unendlichen Vielfalt: Sie beinhalten Buchhaltungsunterlagen ebenso wie Aktiencoupons, Protokolle und Korrespondenzen, Familienfotos und Menükarten, Riechfläschchen und Visitenkartenhalter.

Saal mit Trocknungsapparaten der Seidentrocknungsanstalt Zürich, Foto vom 22. März 1932 (Signatur: W I 99.286, Fotoalbum zum Neubau an der Gotthardstrasse).

Angesichts des hohen inhaltlichen Werts der Unterlagen wurden fast nur Doubletten und Finanzbelege kassiert; aus Fallaktenserien (Kundenbeziehungen oder Personalakten) wurden Auswahlen getroffen. Die Abteilung Aktenerschliessung des Staatsarchivs hat kürzlich die aufwändige Verzeichnung der heterogenen Bestände, die zahlreiche Sonderformate, AV-Medien und Objekte beinhalten, abgeschlossen. Ein Grossteil ist bereits im Online-Katalog des StAZH zugänglich.1

Seiden- und Lottogelder

Im Herbst 2012 unterzeichneten die drei Partnerinstitutionen eine Absichtserklärung. Diese wurde ergänzt durch bilaterale Schenkungsverträge zwischen den abliefernden Stellen und dem StAZH respektive dem SNM. Ein Teil der Projektkosten wurde von der ZSIG übernommen, für den Restbetrag wurde ein Gesuch beim Zürcher Lotteriefonds eingereicht. Für die Kostenkalkulation verschaffte sich das Projektteam in einem ersten Schritt einen Überblick über alle Bestände. Von Seiten des StAZH waren die Abteilungen Überlieferungsbildung und Beständeerhaltung involviert. Einzelne Aktenbildner wurden mehr als einmal besucht, da die Bestände teilweise sehr umfangreich waren und an verschiedenen Orten aufbewahrt wurden. Es ging dabei aber nicht allein um die Messung der Laufmeter und die Beurteilung des konservatorischen Zustandes, sondern ebenso um den Aufbau und die Pflege persönlicher Kontakte zu den Besitzerinnen und Besitzern der Bestände. Wir unterhielten uns in Zürcher Landgasthöfen über frühere Zeiten und aktuelle Probleme der Exportindustrie, wir erlebten mit, wie langjährige Mitarbeitende verabschiedet wurden, und konnten sehen, wie die letzten Produktionsräume in Lofts und Läden umgewandelt wurden. Dies war immer spannend, häufig auch berührend. Und diese persönlichen Kontakte trugen einen guten Teil zum Projekterfolg bei: Weil die Eigentümer uns persönlich kannten, waren sie bereit, uns ihre wertvollen Bestände zur Zürcher Seidenindustrie und zur Sozialgeschichte des Zürcher Bürgertums zu überlassen.

Firmenzeitschriften der Seidenfirma Weisbrod-Zürrer in Hausen am Albis (verschiedene Signaturen aus Bestand W I 97).

Aber nicht bei allen Beständen, die wir besichtigten, kam es zu einer Übergabe. Einzelne Eigentümerinnen und Eigentümer entschieden sich, Teile ihres Archivs oder auch die Gesamtheit der Unterlagen selber zu behalten und in selbst gewählter Form der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Archiv des Hauptakteurs – der 1854 gegründeten ZSIG – war leider bei verschiedenen Umzügen verloren gegangen. Aus Teilen, die sich im Archiv des Textilverbandes erhalten hatten, sowie aus Unterlagen – beispielsweise Jahresberichten – in verschiedenen Firmenarchiven konnte das StAZH jedoch einen kleinen "ZSIG-Bestand" zusammenstellen, der wichtige Informationen zur Geschichte des Branchenverbandes liefert.
Da es sich um ein Projekt mit namhafter Beteiligung des Zürcher Lotteriefonds handelt, wird die Öffentlichkeit regelmässig über den Projektstand informiert. Einmal jährlich finden Informationsveranstaltungen statt, jeweils in einer der beteiligten Institutionen. Auch das StAZH war bereits Gastgeber solcher Anlässe, an denen Forscherinnen und Forscher ihre Erkenntnisse präsentierten und die Mitarbeitenden des Archivs die Gäste in die Details der Bestände einweihten.

Partnerschaften

Das Projekt wurde in erster Linie durch die ZSIG, das SNM und das StAZH durchgeführt. Einen wichtigen Beitrag leisteten aber auch weitere Partner, die sich um Bestände kümmerten, die zwar inhaltlich zum Projekt gehörten, aber ausserhalb der jeweiligen Sprengel lagen. Dazu gehören die Staatsarchive Schwyz und St. Gallen, das Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich und das Textilmuseum St. Gallen. Auch die Zentralbibliothek Zürich, die das Archiv der Firma Schwarzenbach aufbewahrt, wurde ins Projekt einbezogen. Die Anbindung an die Forschung wird durch die Hochschule Luzern – Design & Kunst (HSLU) sichergestellt. Ein Forschungsteam unter der Leitung des Historikers Alexis Schwarzenbach arbeitet dort anhand der nun vorliegenden Archivbestände die Geschichte der Zürcher Seidenindustrie auf, mit mannigfaltigen nationalen und internationalen Querverweisen. Die Erkenntnisse werden sowohl online wie auch in Buchform zugänglich gemacht. Zur Vorbereitung fanden an der Universität Zürich mehrere Forschungsseminare zur Geschichte der Zürcher Seidenindustrie statt. Im Rahmen von Seminararbeiten bearbeiteten Studierende wichtige Aspekte der Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Seide. Begleitend dazu wurde ein Zeitzeugenprojekt durchgeführt: Forscherinnen und Forscher befragten Männer und Frauen, die in verschiedenster Weise mit der Zürcher Seidenindustrie zu tun hatten und sicherten die Resultate in digitaler Form. 

Dessins von gestern für die Mode von morgen

Bei vielen der von uns besuchten Aktenbilder fanden sich Bestände mit dokumentarischem Charakter: Textilbibliotheken, Kursbücher von Seidenwebschulen oder Stoff- und Farbmuster ausländischer Firmen. Es handelt sich dabei vielfach um ästhetisch sehr attraktive Dokumente, beispielsweise um Muster französischer Seidenfäden, die auch nach über 100 Jahren nichts von ihrem Glanz und ihrer Farbkraft verloren haben. Solche Unterlagen wurden in der Regel nur dann übernommen, wenn ein klarer Bezug zur Tätigkeit der jeweiligen Firma oder zu einzelnen Personen innerhalb der Firma hergestellt werden konnte. Gleichzeitig musste das Projekt auch aktuellen Nutzungswünschen Rechnung tragen; so nutzen heutige Ausbildungen im Bereich Textil oft und gerne alte Designs und Muster als Inspiration in ihrer täglichen Arbeit. Im Rahmen des HSLU-Projekts "Silk Memory" werden solche historischen Unterlagen einem breiten Publikum zugänglich gemacht.2

Fazit

Aus Sicht des StAZH ist das Grossprojekt zur Zürcher Seidenindustrie ein Erfolg. Die Zusammenarbeit aller Partner führte zu einem Resultat, das kein einzelner Akteur allein für sich hätte erreichen können. Trotz gelegentlicher Differenzen konnten Know-how und Netzwerke in einer Art und Weise kombiniert werden, die es überhaupt erst ermöglichte, die wertvollen Bestände aus Privatbesitz zu lösen und einer interessierten Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich zu machen.

Wyler Rebekka 2017

Rebekka Wyler

Rebekka Wyler ist stellvertretende Abteilungsleiterin Überlieferungsbildung am Staatsarchiv des Kantons Zürich. Sie betreut verschiedene Direktionen der kantonalen Verwaltung und gelegentlich auch Privatarchive. Ausserdem leitet sie den Bereich Gemeindearchive.

Résumé

Im 19. Jahrhundert war der Kanton Zürich ein Zentrum der europäischen Seidenindustrie. Gemeinsam mit dem Branchenverband der Seidenfirmen und dem Schweizerischen Nationalmuseum hat das Staatsarchiv Zürich zahlreiche Firmen- und Familienbestände gesichert und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Au 19e siècle, le canton de Zurich était un centre important de l’industrie de la soie. Les Archives de l’État de Zurich – en coopération avec l’organisation interprofessionnelle des entreprises de la soierie et le Musée national suisse – ont conservé de nombreux fonds d’archives de ces entreprises et familles et les ont rendus accessibles au public intéressé.