Teaching the Radical Catalog – a Syllabus
«Teaching the Radical Catalog – a Syllabus» versammelt Online-Lernmaterialien, die sich aus dekolonialer und feministischer Perspektive mit den dem Bibliothekskatalog zugrunde liegenden sozial und historisch erzeugten Ordnungen und Hierarchien beschäftigen.
Informationsbeschaffung als politisches Projekt
«Teaching the Radical Catalog – a Syllabus» geht von der Prämisse aus, dass Informationsbeschaffung an sich ein politisches Projekt ist. Bibliothekskataloge und Katalogisierungspraktiken im Globalen Norden beruhen auf bibliografischen Standards, die auf universalisierenden Wissenssystemen des 19. Jahrhunderts basieren und koloniales Erbe widerspiegeln. Deshalb werden Strategien und Taktiken benötigt, um die wertebasierten kulturellen Systeme deutlich und die strukturellen Unzulänglichkeiten sichtbar zu machen.
Teaching the Radical Catalog
Das von Lucie Kolb und Eva Weinmayr entwickelte und kuratierte Online-Lernmaterial zentriert eine solche Arbeit mit und gegen den Bibliothekskatalog. Angelegt als künstlerisches Forschungsprojekt wurde der Syllabus erstmals 2021 im Rahmen der Ausstellung «Reading the Library» in der Kunstbibliothek Sitterwerk St. Gallen gezeigt.
Die Sammlung nimmt den Text «Teaching the Radical Catalog» (2008) der Bibliothekarin Emily Drabinski als Ausgangspunkt, um mittels einer temporären Installation und einer Website radicalcatalogue.net einen Ort zu schaffen, an dem der Katalog verhandelbar wird. Es ist ein Ort zum gemeinsamen Herausarbeiten von Bedenken und Anliegen und zum Entwickeln eines Problembewusstseins.
In insgesamt acht
Lektionen werden Praktiken des Organisierens und Zugänglichmachens
von Wissen in Bibliothekskatalogen befragt und im Gespräch mit
Bibliothekar:innen, Aktivist:innen, Künstler:innen, Designer:innen
und Programmierer:innen Möglichkeiten dekolonialer und
feministischer Interventionen und Experimente diskutiert.
Die ersten beiden Lektionen nehmen eine geopolitische Verortung westlicher Bibliothekssysteme vor. So beschreibt die Informationswissenschaftlerin Nora Schmidt koloniale Spuren in zeitgenössischen alltäglichen Bibliothekspraktiken im globalen Norden und beschreibt Mittel und Wege, Grundlagen für eine dekoloniale Praxis zu schaffen. Emily Drabinski zeigt, dass bereits die Frage der Übernahme der Schlagwortkategorien der Library of Congress, mit denen die meisten Bibliotheken im nordamerikanischen Raum arbeiten, politisch ist: Werden globale Kategorien wie «Illegal aliens» übernommen, selbst wenn sie eine entwürdigende Bedeutung haben? Soll die Kategorie lokal umbenannt oder bei der Library of Congress eine Umbenennung des Schlagworts beantragt werden?
In einem Gespräch mit der Künstlerin Eva Weinmayr, die mit der Library of Inclusions and Omissions (LIO) eine alternative lokale Bibliothek initiiert hat, konzentriert sich die dritte Lektion auf die Möglichkeiten und Potentiale von Dezentralisierung. Angelegt als künstlerisches Projekt versammelt die LIO, Materialien und Perspektiven, die nicht bereits durch das formalisierte Umfeld einer institutionellen Bibliothek validiert oder autorisiert sind. Der Fokus liegt auf künstlerischen Formen der Katalogisierung als Mittel zur Vermittlung von Erfahrungen.
«Warum sind die Autoren der Bücher, die ich lese, so männlich, so weiss, so eurozentrisch?» fragt die vierte Lektion, und zitiert damit den Ausgangspunkt des Kollektivs Feminist Search Tools (Annette Krauss, Anja Groten, Sven Engels, Aggeliki Diakrousi). In einem Gespräch gibt das Kollektiv Einblick in seine experimentellen «Tools», mit denen Mechanismen von Bibliothekskatalogen offengelegt und die Frage gestellt wird, wie Mehrfachdiskrimierungen hinsichtlich Geschlechts, Hautfarbe, und Ethnizität in der Bibliothekssuche berücksichtigt werden können. Diese Frage hat sich auch eine Gruppe von Bibliothekarinnen, Kuratorinnen und Künstlerinnen um die Bibliothek Wyborada gestellt, die auf Einladung der Kunstbibliothek Sitterwerk Kriterien und Charakteristika einer feministischen Bibliothek skizziert haben.
Die Soziologin Susan Leigh Star schreibt in «The Ethnography of Infrastructure» (1999), dass Infrastruktur erst dann sichtbar wird, wenn sie nicht funktioniert. In Prozessen der Wartung, Pflege und Instandhaltung wird alles darangesetzt, sie im Hintergrund zu halten. Das macht es schwierig, sie zu kritisieren. Die Lektionen vier bis sechs machen deutlich, dass das auch für die Infrastruktur des Bibliothekskatalogs gilt. In Gesprächen mit verschiedenen Kollektiven, u.a. Infrastructural Manoeuvres (Martino Marandi, Anita Burato), The Rewrite (Lucie Kolb, Johannes Bruder, Karolina Sobecka) und Constant (Élodie Mugrefya, Femke Snelting), werden Experimente und Ansätze vorgestellt, die an der Infrastruktur des Bibliothekskatalogs kratzen. Diese Kollektive arbeiten daran, die technologischen Grundlagen, die Vorgaben der Benennung und Klassifizierung sowie die Autorität und das Privileg derjenigen, die katalogisieren, freizulegen. Sie entwickeln Werkzeuge, um den Katalog durchlässiger zu machen, damit die Nutzenden Einwände erheben, ihn umschreiben, verändern und mitbestimmen können.
Mit dem Vorstellen und Diskutieren solcher radikalen und
experimentellen Katalogisierungsprojekten und -ansätzen möchte
«Teaching the Radical Catalog – a Syllabus» einen Beitrag zur
Dekolonisierung von Wissensinfrastrukturen leisten. Das Projekt zielt
darauf ab, herauszuarbeiten, inwiefern Bibliothekskataloge im
Globalen Norden an der Reproduktion kolonialer Strukturen beteiligt
sind. Gleichzeitig sollen Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie die
Katalogisierung in Bibliotheken diverser und inklusiver gemacht
werden können. Dabei soll das Herstellen von Verbindungen zwischen
künstlerischen und gestalterischen Experimenten und Diskussionen aus
dem Bereich kritischer Archivierung und dem Bibliotheksweisen eine
Grundlage herstellen für das Entstehen neuer Initiativen, Ansätze
und Überlegungen, die sich mit Prozessen der De-Universalisierung,
De-Kolonialisierung und De-Patriarchalisierung von Wissensordnungen
beschäftigen.
Bibliographische Angaben
- Drabinski Emily, « Teaching the Radical Catalog », In: K. R. Roberto (ed.), Radical Cataloging: Essays at the Front, Jefferson, North Carolina: McFarland, 2008, S. 198-205.
- Leigh Star Susan, « Ethnography of Infrastructure », American Behavioral Scientist Volume: 43 Issue: 3, 1999, S. 377-391.
- «Der radikale Katalog», Fabrikzeitung 374
Résumé
- Deutsch
- Français
Inspiriert von einem gleichnamigen Artikel von Emily Drabinski, derzeit Präsidentin der American Library Association, widmet sich das Projekt «Teaching the Radical Catalog – a Syllabus» der Frage, wie die Entscheidungen, Bedingungen und Gegebenheiten von Katalogen, Bibliotheksnutzer:innen vermittelt werden können. Mit Lernmaterialien sollen Nutzer:innen ermächtigt und ein dekolonialer und feministischer Umgang mit dem Suchen und Finden gefördert werden, der den politischen Charakter der Informationswissenschaft unterstreicht.
Inspiré par un article éponyme d'Emily Drabinski, actuellement présidente de l'American Library Association, le projet "Teaching the Radical Catalog - a Syllabus" se consacre à la question de savoir comment les pratiques de catalogage peuvent être explicitées aux usagers des bibliothèques. Ce matériel didactique, qui souligne le caractère politique des sciences de l'information, vise à renforcer les compétences de recherche de l'usager et à faciliter une approche décolonialiste et féministe des sources.