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2006/3 Erschliessung – Kernaufgabe der Archive und wichtiges Thema für die gesamte I+D-Welt

Ressourcenermittlung im Archiv. Raster zur Bestimmung des Erschliessungsgrads bei der Aktenerschliessung

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Jede Diskussion über den Ressourceneinsatz im Archiv führt unweigerlich zu einer Diskussion über die Kernaufgaben und damit zu einer Diskussion über die Prioritäten in der archivischen Arbeit. Dabei stellen wir immer wieder schmerzlich fest, dass gerade der Erschliessung im Archivalltag allzu oft die undankbare Rolle der Knautschzone oder der Manövriermasse zugewiesen wird.

Diese Tendenz lässt sich dort verstärkt feststellen, wo keine Abstufungen bei der Erschliessungstiefe vorgenommen werden, d.h, wo sämtliche anstehenden Erschliessungsarbeiten über ein und denselben Leisten gezogen werden. Jean Guerout hielt 1991 zu diesem Problemkreis fest: «Quel type d’inventaire choisir? C’est choisir un niveau d’analyse qui ne dépend pas seulement de notre volonté mais aussi et surtout de nos possibilités, compte tenu des problèmes du classement. Cela nous mène à une question finale: Qu’avons- nous le temps de faire? Bref il faut choisir nos cibles.»Guerout Jean, Quel type d’inventaire choisir? in: La Gazette des Archives, no 152–153, 1991. 

Angesprochen ist hier die, wie ich meine, bei der Ressourcenallokation im Erschliessungsbereich letztlich entscheidende Frage nach der Definition unterschiedlicher Erschliessungsgrade und damit der Wahl einer adäquaten Erschliessungstiefe.

Ich werde Ihnen dazu das Lösungsmodell vorstellen, welches wir uns im Staatsarchiv Basel-Stadt vor knapp drei Jahren zurecht gelegt haben. Es wird Ihnen, dies sei gleichsam als Vorwarnung festgehalten, in diesem Diskussionsbeitrag zum Themenkreis «Ressourcenermittlung» weder inhaltlich noch formal ein archivtheoretisch fundiertes Modell präsentiert werden, sondern vielmehr eine Lösung, die sich dezidiert und fast ausschliesslich an der Praxis orientiert bzw. auf unseren spezifischen Arbeitsalltag zugeschnitten ist.

Zunächst eine erste Vorbemerkung. Wir unterscheiden im Staatsarchiv Basel-Stadt folgende vier Erschliessungsgrade:

Sehr summarisch: Die Verzeichnungseinheiten werden hier bloss auf Bestandesebene mit einem sehr allgemein gehaltenen Titel erfasst.

Summarisch: Hier werden zwar sehr wohl einzelne Serien unterschieden, jedoch nur mittels einer groben, flachen bzw. linearen Struktur, die sich mehr oder weniger an den vorhandenen Behältnissen orientiert.

Detailliert: Dieser Erschliessungsgrad ist der eigentliche Standard bei uns im Hause. Das Findmittel weist eine hierarchische Struktur auf, in welcher die Verzeichnungsstufen Fonds, Bestand, Seriengruppen und Serien unterschieden werden und die sich nicht bloss auf die vorliegenden Unterlagen stützt, sondern auch die Aufgaben und Kompetenzen der abliefernden Stelle berücksichtigt. Bei diesem Erschliessungsgrad wird auch der zu erwartende weitere Zuwachs mitberücksichtigt.

Sehr detailliert: Bei diesem Erschliessungsgrad erfolgt die archivische Beschreibung bis auf Dossierstufe bzw. bis zu einzelnen Bänden, in sehr seltenen Fällen gar bis auf Dokumentsstufe.

Der Entscheid darüber, welcher Erschliessungsgrad nun für welchen zu erschliessenden Bestand adäquat ist, wurde bis zum Frühjahr 2003 ad hoc gefällt, d.h., der Entscheid wurde mehr oder weniger der alleinigen Kompetenz des einzelnen Bearbeiters überlassen. 

Innerhalb des Erschliessungsteams mochten wir uns jedoch je länger je weniger mit diesem Zustand zufrieden geben, und wir suchten deshalb nach einer Möglichkeit, diesen doch sehr nachhaltigen Entscheid auf eine etwas festere, um nicht zu sagen standardisiertere Grundlage zu stellen. Bei unserem Modell wurde dennoch bewusst nicht die Form eines starren Massnahmenparameters gewählt. Es war weniger den einzelnen Teammitgliedern als vielmehr mir selbst als Abteilungsverantwortlichem wichtig, sich trotz aller Standardisierungsbestrebungen nicht einem rigiden Korsett unterwerfen zu müssen, sondern weiterhin über einen angemessenen Entscheidungsspielraum zu verfügen. So haben wir uns zwar sehr wohl auf einen klaren Kriterienraster einigen können, der aber als reine Orientierungshilfe oder Richtschnur bei der Bestimmung des Erschliessungsgrads zu verstehen ist.

Damit komme ich zu meiner zweiten Vorbemerkung, zur konkreten Anwendungsweise unseres Rasters: (siehe Darstellung 1)

Die Idee ist die, dass man die einzelnen Kriterien – es sind 6 an der Zahl mit diversen Unterscheidungsmerkmalen – im Sinne einer Checkliste durchgeht, d.h., bewusst Überlegungen anstellt, was auf den zu erschliessenden Bestand zutreffend beziehungsweise für diesen angebracht ist. Den entsprechenden Rhombus wird man dann, zum Beispiel farblich, markieren. Auf diese Weise erhält man eine quasi visuelle Entscheidungsgrundlage: Auf welcher Ebene häufen sich die farblich markierten Rhomben?

Das Ergebnis dieses Durchgangs ist also eine reine Orientierung, ein Hinweis, ein Trend für die Entscheidfindung und keinesfalls ein definitiver, unumstösslicher Entscheid. Selbstverständlich hätte man in der Tabelle an- statt der leeren Rhomben feste nummerische Werte von 1 bis 4 einsetzen und dazu eine Auflösungstabelle liefern können, ähnlich den Selbst-Tests zur Persönlichkeitsfindung, die Sie möglicherweise aus der Regenbogenpresse und Illustrierten kennen («Welches Haustier passt zu mir?»):

– 15 und mehr Punkte: Sehr detailliert

– 10 bis 14 Punkte: Detailliert etc.

Damit wären wir mit unserem Vorgehen wohl «Bologna»-tauglich gewesen, hätten aber die angestrebte Entscheidungsfreiheit eingebüsst. Zudem, dies ist meine feste Überzeugung, würde sich der Evaluationsaufwand (und damit auch der Ressourcenbedarf !) bei diesem Vorgehen erheblich erhöhen, ohne eine wesentlich bessere Qualität des Ergebnisses zu erreichen. Wenn mein Entscheid von grösserer Tragweite ist oder definitiven Charakter hat, so lasse ich mir diesen mehrfach und sorgfältig durch den Kopf gehen. Es sei an dieser Stelle an die Pareto-Regel erinnert, nach welcher sich mit 20 Prozent des Aufwands 80 Prozent des angestrebten Nutzens erreichen lassen, wohingegen für die letzten 20 Nutzenprozente 80 Prozent Aufwand notwenig wären. 

Diese Sorge um den gezielten Einsatz unserer nicht im Überfluss vorhandenen Ressourcen hat zudem dazu geführt, dass wir uns bei der Auswahl der Kriterien ausschliesslich auf formale Kriterien beschränkt haben. Inhaltliche Kriterien setzen eine intensive Auseinandersetzung und eine vertiefte Analyse des zu erschliessenden Bestands voraus – und dies zu einem Zeitpunkt, bei dem mit der konkreten Erschliessungsarbeit noch gar nicht begonnen wurde!

Mit Inhalten gefüllt präsentiert sich der Raster wie folgt: (Darstellung 2)

Zu den einzelnen Kriterien seien nach- folgende Bemerkungen angeführt:

Ordnungszustand: Wir ziehen hier in Betracht, in welchem Ordnungszustand uns die zu erschliessenden Unterlagen abgeliefert wurden. Ist ein Bestand etwa tadellos geordnet, so wird sich die Erschliessungstätigkeit im Wesentlichen auf die Erfassung der einzelnen Verzeichnungseinheiten beschränken – und diesen Aufwand werden wir selbstverständlich leisten. In der Regel verfügen wir bei solchen gut geordneten Beständen über ein detailliertes, nach unseren Vorgaben erstelltes maschinenlesbares Verzeichnis, welches wir über ein spezielles Tool direkt als Verzeichnungseinheiten in unsere Datenbank importieren können. Prinzipiell geht es hier in Richtung der in der Literatur geforderten Nutzbarmachung von Findmitteln, die bereits beim Aktenproduzenten entstanden sind.

Umfang: Wir sind grundsätzlich mit der Maxime einverstanden, dass ein tiefer Erschliessungsgrad eine konservatorische Massnahme darstellt, weil dieser die Anzahl der Negativbenützungen klar vermindert. Diesem Grundsatz tragen wir hier folgendermassen Rechnung: Bei einem minimalen Umfang besteht der Gesamtbestand lediglich aus einer Archivschachtel. Einerseits ist also die ausgehobene Aktenmenge unter Berücksichtigung der Aspekte der Bestandserhaltung ohne weiteres ver- tretbar und andererseits ist es dem Benutzer ebenso ohne weiteres zuzumuten, diese Schachtel als Ganzes durchzusehen. Mit anderen Worten: Je grösser der Umfang, je mehr muss der Bestand im Rahmen der Erschliessung in bestellbare Einheiten unterteilt werden.

Anteil an seriellem Massenschriftgut: Serielles Massenschriftgut wird im Staatsarchiv Basel-Stadt in der Regel nicht integral, sondern bloss in quantitativer Auswahl übernommen. Hier interessiert primär nicht mehr die einzelne Person oder der einzelne Fall, sondern die übernommene Auswahl gilt als repräsentativer Ausschnitt, als «pars pro toto». Deshalb werden die Dossiers vielfach nicht einzeln, sondern lediglich global auf Serienstufe erfasst. Anders verhält es sich selbstverständlich bei einer qualitativen Auswahl, da hier klar der konkrete Fall im Zentrum des Benutzerinteresses steht und gefunden werden will. 

Dokumentierter Zeitraum: Lassen Sie mich hierzu zunächst ein Zitat aus einem Referat von Kollege Anton Gössi zum System der Findmittel anführen: «Mit der Erschliessung hauchen wir unsern Beständen erst Leben ein. Je tiefer der Erschliessungsgrad, desto lebendiger sind unsere Bestände, desto offener das Archiv.»Gössi Anton, Das System der Findmittel. Referat vom 24. Oktober 2003, gehalten im Rahmen des Zertifikatskurses der Université de Lausanne (Certificat Archivistique et Sciences de l’information), Modul 3.2, in Bern. Inhaltlich möchte ich dem nicht widersprechen, doch wenn die Überlieferungssituation derart ist, dass – im übertragenen Sinne – nicht ein ganzes Leben, sondern lediglich einige Tage oder Monate dokumentiert sind, so ist aus unserer Sicht eine bloss oberflächliche Erschliessung gerechtfertigt.

Evidenzwert: Wir verstehen den Evidenzwert hier im Sinne von Theodore R. SchellenbergSchellenberg Theodore R., Die Bewertung modernen Verwaltungsschriftguts. Übersetzt und herausgegeben von Angelika Menne-Haritz, Marburg 1990 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg Nr. 17).und gehen von folgender Fragestellung aus: Welchen Nachweis gibt das vorliegende Aktenmaterial über die Organisationsstruktur und die Funktionsweise der Provenienzstelle, bei der es entstanden ist? Wie umfassend sind Informationen über Organisation, Funktionsweise, Anweisungen, Entscheidungen, Tätigkeiten und Aktivitäten dieser Provenienzstelle in den Akten enthalten? Die Betonung liegt auf der Entwicklung der Dienststelle und des von ihr Erreichten. Es geht uns nicht um die Qualität des überlieferten Materials (bei Schellenberg: Informationswert), sondern allein um den Umfang der im zu erschliessenden Bestand belegten Angelegenheiten.

Erschliessungsgrad Vorgänger-Verzeichnungseinheit: Wir gehen hier nicht so weit wie die da und dort aufgestellte Forderung nach absoluter Homogenität in der Erschliessungstiefe über das ganze Archiv hinweg, aber es zielt exakt in diese Richtung: Der Benutzerin, dem Benutzer soll innerhalb eines Bestands oder innerhalb eines thematischen Blocks zur besseren und effizienteren Orientierung eine einigermassen homogene Erschliessungstiefe angeboten werden.

Dieses Modell setzt das Staatsarchiv Basel-Stadt seit Sommer 2003 ein, und es wird Sie zum Schluss gewiss noch interessieren, wie es sich im Praxistest bewährt hat. Einerseits muss ich ganz nüchtern festhalten, dass der Raster längst nicht bei jeder anstehenden Erschliessungsaufgabe systematisch durchgearbeitet wird; dies ist fast nur bei grösseren Vorhaben der Fall. Die erwähnten Kriterien aber sind vom Erschliessungsteam aufgrund dieses Rasters verinnerlicht worden. Das Bewusstsein für die Kriterien ist im gesamten Team stark verankert, und somit werden diese Kriterien vom Sachbearbeiter implizit stets berücksichtigt, bevor eine konkrete Erschliessungstätigkeit angegangen wird.

Ferner hat die Bereitschaft, beim Erschliessungsgrad tatsächlich und nicht nur theoretisch Abstufungen vorzunehmen, mit dem Raster klar zugenommen (Schlagwort «Mut zur Lücke» auch im Erschliessungsbereich). So gesehen hat sich unser Raster bei der Ressourcenplanung im engeren Sinne bestimmt bewährt. Das Erschliessungsteam hat zudem – und auch dies ist eine betriebswirtschaftliche Grösse – bei der Bestimmung der Erschliessungstiefe erheblich an Sicherheit hinzugewonnen. Dadurch sind schliesslich unsere einschlägigen Entscheide sichtbar homogener geworden. 

Alles in allem hat sich also unser Modell bei seiner ganzen Unvollkommenheit als sehr nützliches Instrument erwiesen. Wenn Ihnen unsere Lösung darüber hinaus Denkanstösse für eigene einschlägige Überlegungen liefern kann, so hat auch mein bescheidener Beitrag zur heutigen Runde durchaus seinen Zweck erfüllt. 

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Daniel Kress

Stv. Staatsarchivar, Staatsarchiv Basel-Stadt