Kulturerbe darf verstaubt sein
«Die lebendige Vergangenheit gleicht dem Schwert und den schweren Ballasttanks eines grossen Segelschiffs. Versteckt unter der Meeresoberfläche verleihen sie dem Boot Stabilität, wenn der Wind in die Segel greift. Eine vergangenheitsblinde Kultur wäre den Stürmen schutzlos ausgeliefert. Bei Flaute merkt man vielleicht nichts davon, doch sobald der Wind sich erhebt, erwirken die Naturkräfte das Kentern.»
Diese nautische Metapher für das Kulturerbe hat der Physiker und Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar formuliert. Als Naturwissenschaftler sieht er die Notwendigkeit von kulturellem Erbe, es braucht also nicht zwingend Geisteswissenschaftlerinnen mit historischem Gespür, um die weittragende Bedeutung von kulturellem Erbe zu erläutern.
Es ist nur verdient, dass dieses kulturelle Erbe 2018 in einen besonderen Fokus gerückt wird, in ganz Europa und auch in der Schweiz. Der vom Bundesamt für Kultur formulierte Anspruch, das «Potenzial des Kulturerbes für eine demokratische und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft sichtbar machen», ist hoch, aber gerechtfertigt.
Doch während in Europa der Begriff des Kulturerbes explizit dinghafte Objekte wie Artefakte, Kleidung und Bücher wie auch und immaterielle Konzepte wie Kulturräume, mündliche Traditionen und Sprachen sowie digitale Ressourcen umfasst, hat sich das BAK entschieden das Schweizer Kulturerbe auf bauliche Pfeiler zu stützen: «Ausgehend von seinen sichtbarsten Elementen, den historischen Bauten und archäologischen Fundstätten, bietet sich 2018 die Gelegenheit, das Kulturerbe neu zu entdecken und in einen breiten Dialog über seinen Wert für die Gesellschaft einzusteigen.»
So sind bislang vor allem bauhistorische Akteure aktiv, allen voran die kantonalen Ämter für Denkmalpflege und (Bau-)Archäologie, was in Konsequenz ein sehr bauliches Bild von Kulturerbe transportiert. Daran ist nichts falsch, doch ist das Bild nicht komplett. Denn die intuitive Antwort auf die Frage, wo Kulturerbe aufbewahrt wird, ist «In Archiven und Bibliotheken».
Dabei ist weder modernen Archivarinnen und noch Bibliothekaren ganz wohl bei dieser Antwort. Denn die Archive definieren sich heute in erster Linie als Instanz der Überlieferungsbildung, welche die Nachvollziehbarkeit des Staatshandelns garantieren und damit als Teil des Staatsapparates eine quasi juristische Funktion wahrnehmen. Die Bibliotheken hingegen müssen sich nach dem Verlust des Informationsmonopols als verlässliche, zeitgemässe Informationsdienstleister mit Mehrwert positionieren. Mit Kulturgütern werden oftmals Staub, Nutzlosigkeit und historische Forschung deren Resultat nur für einen erlauchten Kreis ausgewählter Gelehrter verständlich ist, assoziiert – also genau das Feld, von dem sich Archive und Bibliotheken mit nicht wenig Aufwand zu distanzieren versuchen.
Nichtsdestotrotz ist es genau jenes kulturelle Erbe, das für die meisten Menschen das Faszinosum Archiv und Bibliothek ausmacht.
Wenn Archivarinnen und Archivare einen Archivtag organisieren, dann stellen sie den Besuchern nicht die Gever-Software vor noch die gleichförmigen Massenakten sondern sie holen sie schönen Urkunden und Pläne aus den Schachteln. Mit einem ähnlichen Dilemma sehen sich die Bibliotheken konfrontiert, in deren Vitrinen oftmals Handschriften, Inkunabeln und Erstausgaben ausgestellt werden. Es sind die Stücke des kulturellen Erbes, welche die Menschen in die Magazine locken.