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Vogelhäuschen oder Pietà?

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Matthias Buchholz: Archivische Überlieferungsbildung im Spiegel von Bewertungsdiskussion und Repräsentativität. 2., überarbeitete Auflage. Köln 2011

Als Matthias Buchholz Dissertation an der Berliner Humboldt-Universität 2001 erschien, löste sie gleich ein grosses Echo in der deutschsprachigen Archivgemeinschaft aus. Buchholz hatte in seiner Publikation nicht nur die lange nötige Bewertungsdiskussion im Allgemeinen aufgenommen, sondern gleich auch die Problematik der Bewertung von «massenhaft gleichförmigen Einzelfallakten», in diesem speziellen Fall Sozialakten, mit dessen Aufkommen sich Archivarinnen und Archivare von Behördenarchiven seit mindestens Mitte des 20. Jahrhunderts herumschlagen, unter Diskussion genommen. Über deren Handhabung in der Überlieferungsbildung lag im deutschsprachigen Raum bis dahin noch kaum etwas vor, das sowohl den theoretischen Anforderungen wie auch der praktischen Umsetzung standhielt.

Diese Lücke wurde damals mit Nachdruck geschlossen. Buchholz nimmt sich zuerst einmal die Geschichte und die Inhalte der deutschen Bewertungsdiskussion vor; dabei stellt er sich auf den Standpunkt der Kommunalarchive und geht speziell auf die Thematik Informationswert versus Evidenzwert ein, wobei er klar den Informationswert von Unterlagen hoch einschätzt. Dieser Standpunkt ist bei der Bewertung von relativ gleichförmigen, massenhaft vorkommenden Serien von Einzelfallakten auch sehr gut nachzuvollziehen. Das Wissen um Inhalt ist ebenso wichtig wie das Struktur- und Prozesswissen einer Institution oder Organisation, auch wenn Evidenzkriterien weitaus strukturierter angewendet werden können als inhaltliche Kriterien. Formale und inhaltliche Gesichtspunkte müssen also angemessen gewichtet werden. Dieses Ziel verfolgt auch das meiner Meinung nach gewichtigste zweite Kapitel, Geschichte des archivischen Umgangs mit massenhaft gleichförmigen Einzelfallakten, wo der Autor die archivische Methodendiskussion kritisch abhandelt. Im dritten Kapitel unterzieht Buchholz einen konkreten Bestand von kommunalen Sozialhilfeakten verschiedenen Stichprobenverfahren, untersucht deren Repräsentativität und führt deren Vor- und Nachteile auf. Buchholz weist mit Recht darauf hin, dass eine echt repräsentative Auswahl auf einem mathematisch-statistischen Ansatz fussen muss; nur so können sichere Rückschlüsse auf die Struktur der Grundgesamtheit garantiert werden. Kurz und bündig: Gemäss Buchholz gibt es nur diese zufällige und keine «spezifisch archivische» Repräsentativität – denn lediglich die Vollarchivierung ist hundertprozentig repräsentativ (S. 285). Welche Methode auch immer angewendet wird, sie sollte sich primär am Archivwert des Bestandes und nicht am voraussichtlichen Arbeitsaufwand orientieren. Und die Bewertungsentscheidung sowie die Methode müssen als Kontextinformationen offengelegt werden – beides Aussagen, denen man sich vollumfänglich anschliessen kann. So kunstvoll die Stichprobenziehung auch gelungen sein mag, so kann sie die subjektiven Lebenswirklichkeiten nie ganz abbilden. Um diesen möglichst nahe zu kommen, plädiert Buchholz, die Methoden der Oral History als Ergänzung anzuwenden (Kapitel 3) und beide Seiten – Verwaltung und Verwaltete – zu Wort kommen zu lassen. Damit wird Überlieferung nicht nur passiv gebildet, sondern aktiv mit Zusatzdokumentationen erweitert und hergestellt – etwas, was Archivarinnen und Archivare ohnehin schon immer gerne für sich beansprucht haben.

Die Publikation ist bereits beim Erscheinen der ersten Auflage ausführlich und kritisch rezensiert worden. Die Meinung der Rezensent/innen war einhellig: Buchholz hatte mit seiner Arbeit ein wichtiges Thema aufgenommen und so fundiert und aktiv abgehandelt, dass damit nicht nur eine wichtige Forschungslücke wesentlich ausgefüllt wurde, sondern durch die zahlreichen Praxisbeispiele und Kommentare auch konkrete Arbeitshilfen geliefert wurden. Dass auch die deutschsprachige Archivgemeinschaft diese Ansicht teilte, zeigte schon die Tatsache, dass die Auflage in kurzer Zeit nach Erscheinen vergriffen war. Eine Neuauflage drängte sich praktisch auf.

Für die 2011 erschienene zweite Auflage hat sich Buchholz nicht auf einen reinen Neudruck beschränkt; er hat zwar den Text unverändert belassen, dafür jedoch das Kapitel 2.2. Archivarische Methodendiskussion zur Bewertung massenhaft gleichförmiger Einzelfallakten um ein ausführliches, fast 50 Seiten starkes Unterkapitel zur Bewertungsdiskussion unter dem Titel Nachtrag: Bewertung im 21. Jahrhundert = Verbesserte Qualität der Bewertung? ergänzt. Der Schwerpunkt dieses Nachtrags (S. 151 ff.) liegt auf verschiedenen Tagungsberichten und neuen Beiträgen zum Thema Bewertung im deutschsprachigen Raum seit 2001. Unter anderem werden auch die 2009 publizierten Resultate der vom Schweizerischen Bundesarchiv 2003 organisierten Veranstaltung «Mut zur Lücke– Zugriff auf das Wesentliche. Methoden und Ansätze archivischer Bewertung», an der auch Buchholz seine Forschun55 arbido 1 2013 gen vorstellte, besprochen. Wer sich in einer einzigen Publikation orientieren will, wo die Bewertungsdiskussion für öffentliche Archive im deutschen Raum heute steht, ist mit Buchholz Bewertungspanorama, das er zielsicher und oft pointiert kommentiert, sehr gut und gründlich bedient. Es wird bei der Lektüre des Nachtrags schnell klar, dass sich in den letzten zehn Jahren einiges getan hat; allen voran hat Robert Kretzschmar die Türen für einen undogmatischen und praxisorientierten Umgang mit Bewertungsfragen weit geöffnet, und damit auch den Weg zu neuen Ideen und Möglichkeiten freigemacht. Kooperation mit den abliefernden Behörden, Verknüpfung der Bewertung mit der Erschliessung, Offenlegung von Bewertungskriterien und auch die archivübergreifende Bewertung sind nur einige Stichworte. Nachvollziehbarkeit ist das Zauberwort auch bei Bewertung; es ist auch ein gutes Argument gegenüber den kaum zu erfüllenden Ansprüchen der Forschung, die generell am liebsten eine Totalarchivierung von allem hätte. Ein Dialog zur gegenseitigen Sensibilisierung hingegen wäre für beide Seiten von Vorteil. Auch hier wird das Thema der «archivübergreifenden Bewertung» wieder aufgenommen. Buchholz plädiert in diesem Sinne auch für die so genannten «Dokumentationsprofile», welche die Bewertung nicht nur transparenter gestalten, sondern auch die interarchivische Zusammenarbeit fördern und die traditionelle «zölibatäre Vereinsamung » der Archivistik durchbrechen würden.

Klar wird bei der Lektüre: Bewertungsentscheide bleiben subjektiv. Aber die Bewertung soll klaren Regeln folgen und ist als Verfahren abzuwickeln; die Ziele und Kriterien der Bewertungsentscheide sind offenzulegen, denn diese Informationen sind entscheidend für eine angemessene Auswertung der Unterlagen. Es geht hier nicht nur um das Wissen über die Bewertungs- und Auswahlverfahren, sondern letztlich um klare Zieldefinitionen für die Überlieferungsbildung: «Allein die Kenntnis davon, welche Auswahlverfahren repräsentativ sind und welche nicht, reichen auch bei der Bewertung von massenhaft gleichförmigen Einzelfallakten nicht aus», schreibt Buchholz. «Dieses Wissen ist letztlich schnödes Handwerkszeug, so als hätte man zwar einen Holzklotz und alle Utensilien zu dessen Bearbeitung, aber man ist noch uneins mit sich selbst, ob ein Vogelhäuschen oder eine Pietà daraus entstehen soll.» Das Ziel der archivischen Überlieferungsbildung muss es doch sein, so fasst Buchholz Kretzschmar zusammen, von einer Zeit eine so aussagekräftige und vielschichtige Überlieferung zu bewahren wie nur möglich.

In den letzten Jahren hat sich auch in der Praxis einiges getan: Viele Archive haben ihre Bewertungskonzepte bzw. Dokumentationsprofile offengelegt und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. In der Schweiz hat dies insbesondere das Bundesarchiv getan, und die Arbeitsgruppe Bewertung des Schweizer Berufsverbands der Archivarinnen und Archivare VSA arbeitet an einer gemeinsam zu nutzenden Bewertungsplattform. Es gibt auch bereits Beispiele archivübergreifender Bewertung, wie zum Beispiel das Zürcher Archivierungsmodell für Kinder- und Jugendheime.

Die Lektüre von Buchholz Publikation fällt trotz dem anscheinend trockenen Themas erstaunlich leicht; es ist oft ein Vergnügen, Buchholz Argumentationen und oft pointierten Kommentaren zu folgen – egal, ob man damit einverstanden ist oder nicht. Buchholz Werk kann durchaus auch als Ermunterung und Basis für Bewertungsentscheide dienen, und vielleicht schöpft der eine Archivar oder die andere Archivarin auch den Mut, anstatt bloss ein bewerterisches Vogelhäuschen zu basteln, zu einem regelrechten Bewertungsmeisterwerk nach allen Regeln der Kunst auszuholen und damit gleichsam Buchholz «Pietà» zu schaffen.

Gespannt dürfen wir nun sein, wie und ob sich die Bewertungsdiskussion auch auf den Sektor der Archive privater Herkunft ausweitet. Dies wäre der nächste Schritt, und auch hier wäre eine ebenso grosse Diskussionsfreudigkeit nötig wie unter den Archivarinnen und Archivaren der Verwaltungsarchive.

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Anna Pia Maissen

Präsidentin VSA