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2006/3 Erschliessung – Kernaufgabe der Archive und wichtiges Thema für die gesamte I+D-Welt

Bibliothekarische Erschliessung: Ziele, Methoden, Herausforderungen

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«Kernaufgabe Erschliessung!» war das Thema der Fachtagung 2006 des Vereins der Schweizerischen Archivarinnen und Archivare am 7. April 2006. Meine Aufgabe lautete, in einem Inputreferat die Schweizerische Landesbibliothek kurz vorzustellen und die Ziele, Methoden und Herausforderungen der bibliothekarischen Erschliessung zu erklären. Eine nicht archivische Erschliessungsform wurde vorgestellt. Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der bibliothekarischen Erschliessung.

Die Schweizerische Landesbibliothek1sammelt, erschliesst, archiviert und vermittelt seit 1895 das schriftliche Kulturgut der Schweiz. Der Sammelbereich wird mit dem Ausdruck «Helvetica» umschrieben und umfasst Publikationen, die von einer schweizerischen Autorenschaft verfasst wurden, von einem schweizerischen Verlag herausgegeben wurden oder deren Inhalt die Schweiz betrifft. Gesammelt werden Publikationen, die im Handel erhältlich sind, und sogenannt «graue» Schriften, die ausserhalb des Handels erscheinen. Pro Jahr werden durchschnittlich zwischen 30 000 und 35 000 neue Publikationen in die Sammlung aufgenommen. Der Bestand umfasst gut 3,7 Mio. Einheiten. Die Schweizerische Landesbibliothek hat die Funktion einer Nationalbibliothek, ihre Tätigkeit ist im Gesetz2und in der Verordnung3über die Schweizerische Landesbibliothek festgelegt.

Eine der vier HauptaufgabenSLBG, Art. 2: Aufgabe: Die Landesbibliothek hat zur Aufgabe, gedruckte oder auf anderen Informationsträgern gespeicherte Informationen, die einen Bezug zur Schweiz haben, zu sammeln (1), zu erschliessen (2), zu erhalten (3) und zu vermitteln (4).der Schweizerischen Landesbibliothek ist das Erschliessen der zu ihrer Sammlung gehörenden Publikationen. Damit werden diese für die Nutzung zugänglich, und sie können verwaltet werden.

Ziele der bibliothekarischen Erschliessung

Grundsätzlich wird zwischen verschiedenen Bibliothekstypen unterschieden, deren Benennung nicht immer gleich erfolgt, die sich im Wesentlichen aber durch verschiedene Zielgruppen und damit verbunden durch verschieden geartete Aufgaben unterscheiden:

– Öffentliche Bibliotheken bedienen ein allgemeines Publikum und erlauben oft den direkten Zugang zu ihren Beständen.

– Forschungs- und Bildungsbibliotheken sind häufig Kantonsbibliotheken mit einem konkreten Bildungsauftrag und erlauben teilweise den direkten Zugang zu ihren Beständen.

– Hochschul- und Universitätsbibliotheken bedienen ein wissenschaftliches Publikum und stehen für Lehre und Forschung zur Verfügung. Sie erlauben in seltenen Fällen den direkten Zugang zu den Beständen.

– Spezialbibliotheken richten sich an ein spezialisiertes Publikum in einem Fachgebiet und erlauben teilweise den Zugang zu den Beständen.

– Nationalbibliotheken sind zuständig für die Archivierung und Vermittlung von Kulturgut und erlauben einen eingeschränkten Zugang zu den Beständen.

Die Aufteilung nach Bibliothekstypen und die Definition der Aufgaben und jeweiligen Zielgruppen beeinflussen Tiefe und Ausführlichkeit der bibliothekarischen Erschliessungsregeln.

Gängige Definitionen der Ziele der Katalogisierung lauten wie folgt:

– Ein Katalog ist ein Verzeichnis von Materialien in einer Sammlung, einer Bibliothek oder einer Anzahl von Biblio- theken, das nach einem bestimmten Plan geordnet ist.

– Die bibliografische Erschliessung hat das Ziel, eine Publikation eindeutig zu identifizieren («Identitätskarte» für eine Publikation erstellen).

– In der Erschliessung wird ein hoher Normierungsgrad angestrebt, damit die Zuordnung einer Publikation zu deren Autor oder Autorin, deren Aufla- ge und deren Austausch gewährleistet ist.

Die klassischen Funktionen eines Bib- liothekskatalogs sind:

– Finden:

– eines bestimmten Werks (Buch, Periodikum, elektronisches Medium) nach Autor oder nach Titel

– der verschiedenen Werke eines Autors

– der verschiedenen Auflagen eines Werkes

– Identifizieren:

– der Auflage

– des Verlags und des Erscheinungsdatums

– der Anzahl Seiten/Bände

– Lokalisieren:

– von Standort und Zugänglichkeit

– Verknüpfen:

– mit verbundenen Werken

Methoden der bibliothekarischen Erschliessung

In der bibliothekarischen Erschliessung wird zwischen zwei Erschliessungsformen unterschieden. 

Die alphabetische Erschliessung beschreibt eine Publikation formal und identifiziert deren Autorenschaft, Titel, Auflage, Kollation (Seitenzahlen, Ausmasse etc.), Reihenangaben, Fussnoten und Standardnummern. Regeln für die alphabetische Erschliessung sind beispielsweise die «Anglo-American Cataloguing Rules» (AACR) oder die deutschen «Regeln für die alphabetische Katalogisierung» (RAK). Die einzelnen Datenelemente werden mit einem bi- bliothekarischen Datenformat erfasst (z.B. MARC21, UNIMARC). Bibliotheken verwenden verschiedene Bibliothekssysteme, die zusätzlich zum Katalog die wichtigen Bibliotheksapplikationen verwalten (ALEPH, VIRTUA, PICA etc.).

Die Sacherschliessung oder Indexierung beschreibt den Inhalt einer Publikation. Man unterscheidet zwischen verbaler Erschliessung, die eine Publikation mit Worten beschreibt (z.B. SWD – Schlagwortnormdatei, LCSH – Library of Congress Subject Headings), und der Klassifikation, also der Einteilung der Publikation in eine auf eine Klassifikation aufbauende Hierarchie (z.B. DDC – Dewey Decimal Classification, UDC – Universelle Dezimalklassifikation etc.). 

Die heute in den Bibliotheken verwendeten Erschliessungsregeln sind stark von den früher verwendeten Kärtchenkatalogen und den damit verbundenen Suchstrategien geprägt. Die Grundlage für die Regeln der alphabetischen Erschliessung bilden die Pariser PrinzipienInternational Conference on cataloguing principles Paris, 9th–18th October 1961. – London: International Federation of Library Associations, 1963.. An diesem von der «International Federation of Library Associations» (IFLA) organisierten Kongress wurden weltweit gültige, einheitliche Ziele für die bibliothekarische Erschliessung festgelegt. Damit entstand die Grundlage für die Erarbeitung der «International Standard Bibliographic Description» (ISBD), die im Detail die Erschliessungsregeln definiert. Die ISBD ist nur für Formalerschliessung gültig und wird weltweit angewendet. Für die Sacherschliessung wurden andere Regeln erstellt. Für gewisse Medientypen oder -sammlungen wie z.B. Literaturarchive, Spezialsammlungen, elektronische Medien gibt es alternative Erschliessungsregeln. 

Abkürzungen

AACR2: Anglo-American Cataloguing Rules, 2nd edition

DDC:  Dewey Decimal Classification

FRBR:  Functional Requirements for Bibliographic Records

IFLA:  International Federation of Library Associations and Institutions 

ISBD:  International Standard Bibliographic Description

LCSH:  Library of Congress Subject Headings

MARC21:  Machine Readable Cataloguing, 21

RAK:  Regeln für die alphabetische Katalogisierung

SWD:  Schlagwortnormdatei

UDC:  Universal Decimal Classification

Herausforderungen

In der Vergangenheit und auch noch in der Gegenwart werden Katalogisierungsregeln verwendet, die auf der «International Standard Bibliographic Description» (ISBD) aufbauen. In der Schweiz werden zurzeit in den wissenschaftlichen Bibliotheken die «Anglo-American Cataloguing Rules» (AACR2) verwendet, und als Codierungsformat ist «MARC21» (Machine Readable Cataloguing) im Gebrauch.

Die Gegenwart kündigt einen Paradigmenwechsel in der Erschliessungsarbeit an. Neu sollen neben der Beschreibung eines bestimmten Objektes auch seine Verbindungen zu anderen Objekten aufgezeigt werden. Unter dem Titel «Functional Requirements for Bibliographic Records» (FRBR) erarbeitete die «International Federation of Library Associations» (IFLA) Überlegungen zu einer neuen Erschliessungslogik. Die aktuell gültigen «Anglo-Amercian Cataloguing Rules» werden zurzeit überarbeitet, und das neue Regelwerk «Resource description and access» (RDA) soll 2007 vorliegen. Im Bereich der Formate wird eine Ablösung des Formats MARC21 zugunsten des flexibleren XML-Schemas diskutiert, allerdings wurden hier noch keine Vorentscheide getroffen. Im Bereich der Sacherschliessung sind einmal mehr die hohen Kosten und die Grenzen der verbalen Erschliessung in einer mehrsprachigen globalisierten Welt Diskussionsthemen.

Die «Functional Requirements for Bibliographic Records» (FRBR) bilden die Grundlage für den Paradigmenwechsel in der Kataloggestaltung. Nachfolgend wird die aktuelle ISBD-Logik der zukünftigen FRBR-Logik gegenübergestellt.

Einfache Beziehung zwischen physischem Objekt und bibliografischer Katalogbeschreibung (ISBD):

In der Vergangenheit (und Gegenwart) wurde eine einfache Beziehung zwischen physischem Objekt und der bibliografischen Katalogbeschreibung inklusive Bestandesangaben hergestellt.

Im Katalog wird ein einzelnes physisches Objekt (Publikation) beschrieben. Durch die standardisierte Beschreibung und die festgelegte Ordnung in der Beschreibung befinden sich im Katalog alle Publikationen des gleichen Urhebers oder der gleichen Urheberin unter dem Autorennamen vereint. Es besteht jedoch keine Verbindung zu Publikationen, die zum Beispiel auf einem anderen Träger erschienen sind und anstatt als Buch als DVD vorliegen. 

Komplexe Beziehung zwischen physischem Objekt, Umfeld, Relationen und bibliografischer Katalogbeschreibung (FRBR)

In der Zukunft (und Gegenwart) wird eine komplexe Beziehung zwischen dem physischen Objekt, dessen Umfeld, den bestehenden Relationen (Verbindungen) und der bibliografischen Katalogbeschreibung inklusive Bestandesangaben hergestellt.

Im Katalog wird auf der obersten Hierarchiestufe die Idee (Werk) ohne physisches Objekt beschrieben. Auf der nächstfolgenden Hierarchiestufe wird das physische Objekt (Ausdruck) in seiner Grundform beschrieben. Auf der dritten Stufe erfolgt die Beschreibung in einer spezifischen Ausprägung (Manifestation), und erst auf der vierten Stufe erfolgen die bibliotheksspezifischen Angaben über Bestand, Ausleihmodalitäten etc. (Objekt). Die verschiedenen Ausprägungen eines Werkes sollen dargestellt und miteinander verbunden werden können.

Noch haben sich die «Functional Requirements for Bibliographic Records» nicht vollständig durchgesetzt. Erst wenige Bibliothekssysteme liefern Lösungen für die Darstellung der Verbindungen zwischen den einzelnen Hierarchiestufen. Nur einzelne Bibliotheken wenden die Möglichkeiten bereits an. Da es sich um ein Modell und nicht um eine konkrete Anwendung handelt, müssen zuerst die Katalogisierungsformate (Codierungsformate), Katalogisierungsregeln (Anwendungsregeln) und die entsprechenden Bibliothekssysteme angepasst werden. Dazu bestehen weltweit Millionen von Datensätzen, die gemäss traditionellem ISBD-Schema erstellt wurden. ISBD und FRBR können zwar in einem Bibliothekskatalog problemlos nebeneinander bestehen, zumal nicht jede Publikation eine komplexe Beziehung zu anderen Publikationen hat, die Anpassung der Regeln, Formate und Systeme wird jedoch noch einige Jahre dauern.

Bibliografie: Erschliessungsnormen

Anglo-American Cataloguing Rules / prepared by the American Library Association, the British Library, the Canadian Committee on Cataloguing, the Library Association, the Library of Congress. – 2nd ed. / edited by Michael Gorman and Paul W. Winkler. – Chicago: American Library Association; Ottawa: Canadian Library Association, 1978.

Functional Requirements for Bibliographic Records: final report / IFLA Study Group for Functional Requirements for Bibliographic Records. – IFLA Universal Bibliographic Control and International MARC Program, Deutsche Bibliothek Frankfurt am Main. – München: Saur, 1998.

International Conference on cataloguing principles, Paris, 9th–18th October, 1961. – London: International Federation of Library Associations, 1963.

ISBD (M): International Standard Bibliographic Description for Monographic Publications. – London: International Federation of Library Associations, 1974.

MARC21 – format for bibliographic data: including guidelines for content designation / prepared by Network Development and MARC Standards Office, Library of Congress in cooperation with Standards and Support, Library and Archives Canada, Bibliographic Standards and Systems, British Library. – Washington: Library of Congress, Cataloging Distribution Service; Ottawa: Library and Archives Canada, 1999–.

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Elena Balzardi

Die Diplombibliothekarin Elena Balzardi machte bereits ihre Ausbildung in der damals noch Landesbibliothek genannten Schweizerischen Nationalbibliothek. Dort übernahm sie 2001 die Leitung des Projekts e-Helvetica, in dem Verfahren für die Langzeitarchivierung und die Konsultation elektronischer Publikationen entwickelt werden. Ab 2003 leitete sie die Sektion Sammlungen, die grösste Sektion mit rund 80 Mitarbeitenden. Seit März 2008 ist sie Vizedirektorin der Nationalbibliothek und damit für die operative Leitung zuständig.