Ein hörbarer Einblick in ein Kunstprojekt zum Thema der Langzeitarchivierung
Unser Bedürfnis zu sammeln und zu speichern ist immens, analog sowie digital. Die Künstlerin Anna-Sabina Zürrer hat sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt und präsentiert einen ungewohnten Zugang zum Thema. Im Folgenden gibt sie uns Einblick in ihr Kunstprojekt „Zeitscherben“. Aber lesen und hören Sie selbst!
Widersprüchliche Gegensätze, Zustandsänderung von Kulturgut, visuelle Reizüberflutung sowie unser Umgang mit Sammelgut und Speicherkapazität sind Aspekte, die mich seit einigen Jahren interessieren und die ich immer noch als höchst aktuell empfinde: Unser Bedürfnis zu sammeln und zu speichern ist immens, analog als auch digital. Wieviel können wir speichern, bis unser Gehirn, die Festplatte, der Lagerraum überquillt? Welche Inhalte bewerten wir überhaupt als speicherrelevant? Was müssen wir loslassen bzw. vergessen damit überhaupt genügend Platz für Neues frei wird?
Ich bin weder Journalistin noch Wissenschaftlerin, aber mit ähnlichen Methoden unterwegs: Als Künstlerin kann ich meine Themen frei wählen, experimentell forschend bearbeiten und in eigene Formen bringen.
Für die umfangreiche, im Rahmen des Werkbeitrags für Bildende Kunst des Kantons Luzern entstandene Audioinstallation, führte ich Interviews mit folgenden Personen: Sabina Bossert (Historikerin, Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich), Pascalia Boutsiouci (Corporate Services, ETH-Bibliothek Zürich), Johanna Elebe (Restauratorin Kunstmuseum Luzern), Christian Harb (Archäologe, Luzerner Kantonsarchäologie), Anna Kienholz (Archäologin, Luzerner Kantonsarchäologie), Dinah Knuchel (Archivarin, Staatsarchiv Kanton Luzern), Rahel Koller (technische Glasbläserin und freischaffende Glasdesignerin, Glaslabor Bern), Martin Kunze (Materialforscher und Initiant Projekt "Memory of Mankind”, Österreich), Barbara Signori (Leitung e-Helvetiva, Schweizerische Nationalbibliothek, Bern), Nicola Spaldin (Chemikerin und Materialforscherin, Professorin für Materialtheorie der ETH Zürich), Gregor Spuhler (Leiter Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich) und Martin Trüssel (Höhlenforscher, Initiant NeKO-Stiftung Obwalden).
Aus der Unmenge an aufgenommenen Informationen entwickelte ich Audiofiles, welche die Aussagen der Fachpersonen miteinander verweben. Die Essenzen aus den unterschiedlichen Gesprächen wurden thematisch geordnet, teils in mehreren Sätzen, teils sehr fragmentartig verwendet, überlagert, kombiniert/kontrastiert etc.
Ein Komponieren der Stimmen zu experimentellen Hörstücken. „Zeitscherben“ ist unsichtbar, nimmt aber den gesamten Ausstellungsraum ein: Eine Audioinstallation, die sich den Besuchenden erst erschliesst, wenn Sie sich mit Kopfhörern und einem Infrarotempfangsgerät durch den leeren Raum bewegen und die durch Infrarotsensoren ausgelösten Audio-Files quasi aus der Luft rausfischen: Wer stehen bleibt, kann das File zu Ende hören und die Komposition der Inhalte wahrnehmen. Wer weiter geht ist bald in den Bereich eines weiteren Sensors getreten und das nächste Stück wird abgespielt. So ist es möglich, sich durch schnelle Bewegung im Raum ein „individuelles experimentelles Hörstück“ zu generieren und die verschiedenen Themenblöcke und Stimmen eigens zu kombinieren.
Der Sehsinn tritt dabei in den Hintergrund und die vermeintliche Leere im Raum wird mit einer akustischen Fülle kompensiert. Wie die unzähligen Daten in einer Cloud, die zwar in energiefressenden Datencentern physisch lagern, im Allgemeinen für uns aber doch sehr unfassbar und irreal digital sind.
Inhaltlich werden Themen der Zeit verhandelt. Es geht um Bruchstücke aus Vergangenem und Zukünftigem, um Fragmente, die wir festhalten, interpretieren und zu lesen und einordnen versuchen. Bruchstücke, die teilweise eine gefährliche Schärfe aufweisen und auf aktuelle und zukünftige Probleme hinweisen. Oder solche die zu undefiniert/klein sind, um sie mit unseren aktuellen kognitiven Fähigkeiten und technischen Messmethoden in den richtigen Kontext zu setzen. Da bleibt nur die eigene Vorstellungskraft. Es geht um unser Sammelbedürfnis, die Unmengen von Daten die täglich entstehen, um analoges und digitales Aufzeichnen, um subjektive Geschichtsschreibung, Grenzen des Archivierens, zukunftsfähige Datenträger, Umgang mit Forschungsdaten, um generationenübergreifende Kennzeichnung von Atomendlager, neue umweltschonendere Speichermöglichkeiten und um Glas als Datenträger.
Die QR-Codes in diesem Artikel ermöglichen es Ihnen ein paar ausgewählte Stimmenkompositionen zum Thema zu hören.