Bemerkungen zur Archivierung des Ephemeren
Rupert Tiefenthaler schildert die Voraussetzungen, unter denen das Flüchtige, Ephemere archivierbar wird.
Soziale Bewegungen und Initiativen thematisieren die Archiv- und Dokumentationspraxis, weil öffentliche Archive für die Überlieferung ihrer Zeugnisse oft nicht zuständig sind. Doch scheint die Archivierung von Flüchtigem und Kurzlebigen ein Widerspruch. Dieser lässt sich überwinden, wie der Beitrag zeigt. Auf einer abstrakten Ebene sollen die Voraussetzungen der Archivierung des Ephemeren überdacht und verdeutlicht werden.
Definition des Ephemeren
Flüchtiges und Kurzlebiges wird unter dem Begriff des Ephemeren zusammengefasst. Dazu zählt vieles: Streiktücher, Stickers, Flugblätter, Zines oder sogenannte graue Literatur. Gemeinsam ist diesen Objekten, dass sie nicht für die Archivierung gedacht sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Zeugnisse und damit Quellen von gesellschaftlichem Engagement sind. Doch wie lassen sie sich archivieren? Zwei Eigenschaften und zwei Methoden sollen mögliche Wege ins Archiv dazu aufzeigen.
Eine gern übersehene Eigenschaft ist ihre Schriftlichkeit oder allgemeiner, ihre Materialität. Diese erst stellt das Anliegen der Gruppe in einen Kontext, der sich von der Sprecher-Hörer-Situation trennen und damit in einen anderen Kontext bringen lässt. Um ein Beispiel zu geben: Die Archivarinnen und Archivare, Bibliothekarinnen und Bibliothekare des Masterstudienlehrgangs MAS AIS - Master of Archival and Information Science der Universitäten Bern und Lausanne haben während ihres Kurses in den Jahren 2008 bis 2010 Fundstücke aus ihrem Alltag, ihrer Arbeit oder ihrer Ausbildung in einem Archivkarton gesammelt, der unter den Teilnehmer zirkulierte. Ein Künstler hat diese Gegenstände als Ausgangspunkt für Zeichnungen genommen. Entstanden ist eine kleine Publikation, welche alle Teilnehmer zum Studienabschluss erhielten. Erst mit der Verschriftlichung ist die Voraussetzung der Archivierung des Flüchtigen gegeben.
https://www.frauenarchiv.li (Zugriff am 01.07.2022)
Ephemeres zeichnet sich dadurch aus, dass niemand für es zuständig ist, sobald es seinen Zweck in der Gegenwart erfüllt hat. Es bedarf aufmerksamer Personen, die es lokalisieren, zusammentragen und verzeichnen, um es überliefern zu können. Die Archivierung des Ephemeren ist nur durch die bewusste Aneignung einzelner engagierter Personen oder Gruppen möglich. Sie wirkt auch auf diese Gruppen als identitätsstiftend zurück. Ein Beispiel für diese Prozess der Aneignung der eigenen Vergangenheit bietet das liechtensteinische Frauenarchiv. Dieses ging aus der Initiative «Frauen in guter Verfassung» hervor. Zusammen mit der Abteilung Landesarchiv im Amt für Kultur wurde ein Erschliessungskonzept entworfen. Seit 2018 archiviert die Initiative die Unterlagen der Frauenbewegungen Liechtensteins. Das Landesarchiv hat zugesichert, für die langfristige Überlieferung dieses Bestandes bei Bedarf zu sorgen. Befähigung zur Archivierung muss von den klassischen Archiven kommen, um so sozialen Bewegungen die Archivierung ihrer eigenen Bestände zu ermöglichen.
Voraussetzungen für die Archivierung
Verschriftlichung und Aneignung sind zwei wesentliche Voraussetzungen für die Archivierung des ursprünglich Flüchtigen. Eine dritte ist die Kommunikation und Kooperation zwischen sozialen Gruppen und den professionellen Akteuren im Bereich der Erinnerungspolitik. Hier sind unterschiedliche Formen der Teilhabe und der Abstimmung möglich. Eine wesentliche Grundlage für die Archive bilden die Beschreibung der Überlieferungsziele, die Festlegung des Dokumentationsgrades und die Entwicklung von Bewertungsmodellen. Diese tragen wesentlich zu einer fundierten Kommunikation bei, da sie es ermöglichen, begründet «Ja» oder «Nein» zu sagen und einen angebotenen Bestand nicht zu übernehmen. Die Überlieferung im Verbund, bei welcher Archive ihre Zuständigkeiten untereinander definieren, ist ein weiterer Schritt für die verantwortungsvolle Überlieferungsbildung. Dazu zählt auch die Abstimmung der Sammlungsstrategie der unterschiedlichen Gedächtnis-Institutionen wie Archive, Bibliotheken und Museen aufeinander. Durch Kooperation bringt jede Institution ihre Stärken in der Überlieferungsbildung ein.
Bei diesen Massnahmen besteht jedoch die Gefahr, dass nur eine nationalstaatliche Erinnerungspolitik bedient wird. Gegensteuern lässt sich durch die Pluralisierung und Intensivierung der Zugänge zur Vergangenheit geben. Dies geschieht durch die Teilhabe einer breiten Öffentlichkeit. Die «Nationale Informationsstelle zum Kulturerbe NIKE» hat 2021 mit ihrer Publikation «Teilhabe am Kulturerbe - ein Leitfaden» praktikable Möglichkeiten dazu aufgezeigt. Im Bereich der Archive hat Franziska Brunner 2017 unter dem Stichwort «Überlieferungsbildung 2.0» den Mehrwert der Partizipation Dritter an den Kerngeschäften des Archivs untersucht. Die jüngsten Ausgaben des «Archivars» (Heft 2/2022) und der österreichischen Zeitschrift «Mitteilungen der Vereinigung österreichischer Bibliothekarinnen & Bibliothekare» (Heft 1/2022) widmen sich den geschlechterspezifischen Zugängen bzw. den Frauen im Archiv. Sie zeigen, dass «Teilhabe» nicht bei theoretischen Konzepten stehen bleibt, sondern dass die Umsetzung in die Praxis erfolgt und die Archiv-, Bibliotheks- und Museumslandschaft bunt und vielfältig wird. So erweist sich das angeblich Ephemere schliesslich als Bestimmungsmerkmal für das Wesentliche: für das Leben.
Résumé
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Der vorliegende Aufsatz thematisiert die Voraussetzungen, welche das Flüchtige bzw. Ephemere erfüllen muss, um archivfähig zu werden. Dazu zählen seine Schriftlichkeit sowie die bewusste Aneignung und Überlieferung durch interessiere Personen. Kommunikation und Kooperation sozialer Gruppen mit professionellen Überlieferungsinstitution sind ebenfalls wesentliche Voraussetzungen für eine gesellschaftlich verantwortungsvolle Überlieferungsbildung.
Le présent article traite des conditions que doivent remplir les documents éphémères pour pouvoir être archivés. Parmi ces conditions, on compte sa forme écrite ainsi que son appropriation et sa transmission conscientes par les personnes intéressées. La communication et la coopération entre les groupes sociaux et les institutions professionnelles de transmission sont également des conditions essentielles pour une constitution socialement responsable des archives.